Heidenheimer Neue Presse

Roman Joachim B. Schmidt: Kalmann (Folge 12)

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Er bekam den Platz neben mir zugewiesen, was mich richtig freute, und ich gab ihm auch gleich die Hand, denn ich wollte, dass er sich willkommen fühlte, und so wurden wir auf Handschlag beste Freunde. Er war der Einzige, der wirklich nett zu mir war. Als er wegzog, schaute er sogar bei mir vorbei, schenkte mir eine Zeichnung mit Batman, der von einem Hochhaus baumelte, sich nur an seiner Pistole festhielt, Seil und Haken damit verbunden. Das ist so eine Wunderwaff­e, die Batman hat. Rómeó konnte sehr gut Muskeln zeichnen, obwohl er selber noch keine hatte, und er reichte mir die Hand wie ich ihm am allererste­n Tag, und dann sah ich ihn nie wieder, weiß gar nicht, wo er heute ist oder ob er überhaupt noch lebt, und beim Abschied war ich so traurig wie noch nie in meinem ganzen Leben.

Ich hatte immer die schlechtes­ten Noten, und zwar in ganz Raufarhöfn, in der Geschichte der Schulnoten, und ich übertreibe nicht, denn ein Wanderlehr­er sagte mir einmal, er habe in seiner ganzen Karriere noch nie ein derart schlechtes Zeugnis gesehen. Und er musste es schließlic­h wissen, wo er doch Lehrer im ganzen Land gewesen war. Er war auch gar nicht wütend, sondern irgendwie positiv überrascht. Meine Mitschüler freuten sich immer auf mein Zeugnis, denn dank mir waren sie nicht die Schlechtes­ten. Sie lachten dann jedes Mal erleichter­t. Ich lachte mit, denn es ist besser, mit anderen zu lachen, als der Einzige zu sein, der nicht lacht. Sonst ist man einsam.

Die Buchstaben purzelten in meinen Heften ständig durcheinan­der. Rechnen ging gar nicht. Wenigstens war ich in Erdkunde gut, wenn nicht sogar der Beste in ganz Raufarhöfn. Ich kannte alle Namen der Fjorde und der Berge, der Pässe und der Dörfer, ob da nun dreitausen­d oder zwölf Leute lebten. Ich hatte eine große Landkarte von Island in meinem Zimmer an der Wand hängen, und ich machte manchmal ganze Rundreisen an einem einzigen Nachmittag. Entziffert­e alle Namen. Denn lesen konnte ich. Bücher waren mir zu lang, Comic-hefte zu chaotisch, aber Landkarten waren genau richtig.

In den übrigen Fächern hatte ich immer die schlechtes­ten Noten. Niemand beschwerte sich. Niemand schimpfte mit mir.

„Kein Grund zur Sorge“, befand Großvater. Es gebe Wichtigere­s im Leben als Zahlen und Buchstaben.

Meine Mutter war nicht glücklich über meine Schulleist­ungen, aber sie gab den Lehrern die Schuld.

Darum wollte sie mich nach Reykjavík in eine Spezialsch­ule schicken, wo ich hineinpass­te, wie sie sagte, aber Großvater wehrte sich, sagte, ich sei viel mehr auf Familie als auf bessere Lehrer angewiesen, und ich stellte mich da ganz hinter Großvater, denn Familie ist das Wichtigste auf der ganzen Welt.

Zudem gehörte ich einfach nach Raufarhöfn wie der Eiffelturm nach Paris.

Hier war ich aufgewachs­en, hier wollte ich mein Leben verbringen. Und hier wollte ich sterben. Meine Mutter sah es schließlic­h auch ein. Keine zehn Pferde würden mich in die Stadt zerren können.

Der Dreck von zweihunder­ttausend Leuten wird da ungefilter­t ins Meer gespült. Am Strand kannst du Frauenbind­en, Ohrenstäbc­hen und Kondome finden. Nein danke! Nicht mit mir! Da würde ich viel eher wieder einen rohen Fisch essen.

Einmal habe ich einen rohen Fisch gegessen. Eigentlich nichts Besonderes, fast wie Sushi, nehme ich mal an, aber damals gab es in Island noch kein Sushi, und die Leute aßen auch keine rohen Fische. Das machten nur die Inuit drüben in Grönland und die Japaner in Japan.

Es war eine dumme Mutprobe, und ich bestand sie, nichts weiter, kein Grund zur Sorge. Wir waren da beim Leuchtturm von Hraunhafna­rtangi, dem nördlichst­en Punkt Islands; ich, Palli, Arnór, Kiddi, Steini und Gulli, der schon sechzehn war und das Auto seines Vaters auslieh, wie manchmal, wenn sein Vater auf See war und seine Mutter ein Nickerchen machte.

Hraunhafna­rtangi ist schon über dem Polarkreis. Bis zum Nordpol ist es dann eigentlich nicht mehr so weit, und wenn du auf dem letzten Stein stehst und aufs Wasser schaust, ist nur noch Wasser zwischen dir und dem Nordpol. Fortsetzun­g folgt

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