Kretschmann springt CDU in Maskenaffäre bei
Www.hz.de Es handle sich um das Fehlverhalten Einzelner, sagt der Ministerpräsident beim Wahlforum der SÜDWEST PRESSE.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sieht in der Maskenaffäre kein strukturelles Problem der CDU. „Das ist zunächst ein Fehlverhalten Einzelner“, sagte Kretschmann beim Wahlforum der SÜDWEST PRESSE in Ulm. Es sei sehr gravierend, sich an einer Krise zu bereichern. Keine Partei sei vor ähnlichen Vorfällen gefeit, es mache jetzt keinen Sinn „rumzuspekulieren“. Kretschmann lobte, dass auf das Fehlverhalten schnell reagiert worden sei und die betroffenen Abgeordneten Konsequenzen ziehen mussten: „Die Demokratie hat ihre Reinigungskraft gezeigt.“
Cdu-spitzenkandidatin Susanne Eisenmann distanzierte sich ebenfalls scharf von den beiden Bundesabgeordneten Nikolas Löbel und Georg Nüßlein. Es sei ihr ein Rätsel, wie man so etwas tun könne: „Sich selbst zu bereichern in einer Situation, in der viele ums wirtschaftliche Überleben kämpfen.“
Beim letzten großen Schlagabtausch vor der Landtagswahl am Sonntag versuchten beide Spitzenkandidaten noch einmal, unterschiedliche Positionen herauszuarbeiten. Eisenmann machte die grün-rote Vorgängerregierung für den Lehrermangel verantwortlich: Man habe aus fehlender Weitsicht heute zu wenige Fachkräfte an den Schulen. „Es wäre nicht unklug gewesen, schon 2014/2015 die Ausbildungskapazitäten zu erhöhen“, sagte Kultusministerin Eisenmann.
Kretschmann verwies dagegen auf Prognosen des Statistischen
Landesamts, die einen deutlichen Rückgang der Schülerzahlen vorhergesagt hatten. Er habe sich auf diese Zahlen verlassen. „Ich muss zugeben: Ich war da der Bösewicht“, sagte Kretschmann. Man habe die Strategie aber sofort korrigiert, als klar geworden sei, dass die Zahlen nicht zutrafen.
Dissens gab es auch bei der Verkehrspolitik. Eisenmann warf Kretschmann indirekt vor, vor allem Politik für Radfahrer und Fußgänger zu machen. Im grünen Wahlprogramm sei als Ziel definiert, jeden zweiten Weg mit dem Rad oder zu Fuß zurückzulegen. „Das ist schon in der Stadt schwierig, auf dem Land ist die Realität völlig anders“, sagte Eisenmann. Kretschmann hielt dagegen: Es gehe lediglich darum, dass man dort, wo es sinnvoll zu machen sei, das Rad nutze. „Wie soll man sonst Innenstädte von Autos entlasten?“
Als Susanne Eisenmann zu Beginn gefragt wird, ob sie im Wahlkampf noch eine ganz neue Seite an Winfried Kretschmann kennengelernt habe, muss der Ministerpräsident kurz lachen. „Er ist sich, glaube ich, treu geblieben“, konstatiert die Cdu-kultusministerin. Und auch Kretschmann meint, er sei von seiner Ministerin nicht überrascht worden. Man kennt sich, man schätzt sich und vor allem hat man fünf Jahre lang miteinander regiert. Beim SÜDWEST PRESSE-DUELL werden dennoch Unterschiede deutlich. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Fragen und Antworten.
Frau Eisenmann, zwei Ihrer – jetzt ehemaligen – Parteifreunde sind in einen Skandal um Schutzmasken verwickelt. Was bedeutet das für Ihren Wahlkampf?
Es ist mir ein Rätsel, wie man so etwas tun kann: Sich selbst zu bereichern in einer Situation, in der viele ums wirtschaftliche Überleben kämpfen. Es ist gut, dass Nikolas Löbel aus der Partei ausgetreten ist, und ich erwarte, dass er das Geld spendet.
Herr Kretschmann, Parteifreunde von Ihnen twittern von „Schwarzem Filz“. Ist das auch das Bild, das Sie von der CDU haben?
Das ist zunächst ein Fehlverhalten Einzelner. Man muss auch sagen: Die Demokratie hat ihre Reinigungskraft gezeigt. Innerhalb weniger Tage mussten die Personen die Konsequenzen ziehen.
Das beherrschende Thema bleibt Corona: Haben Sie im Rückblick im Kampf gegen die Pandemie Fehler gemacht?
Kretschmann: Wir haben einen Fehler begangen, als wir uns bei der Ministerpräsidentenkonferenz im November für den milden Lockdown entschieden haben. Wir hatten die Ansage aus der Wissenschaft, dass das genügen könne, um die Welle zu brechen. Das hat sich als falsch herausgestellt. Wir haben daraus gelernt und jetzt eine Notbremse bei einer Inzidenz von 100 eingeführt.
Frau Eisenmann, welche Note würden Sie dem Krisenmanagement von Herrn Kretschmann geben?
Ich tue mich etwas schwer mit dem Vergeben von Noten, wenn man selbst an der Klassenarbeit mitgeschrieben hat. Dass man im Nachhinein vieles anders machen würde, ist klar. Es gab keine Blaupause für diese Situation.
Was hätten Sie anders gemacht?
Es geht um die Frage, wie schnell wir neue Konzepte aufsetzen: bei der Teststrategie, bei der Impfstruktur. Die Menschen haben den Eindruck, dass der Staat nicht gut genug vorbereitet ist.
Herr Kretschmann, viele Bürger verstehen nicht mehr, warum Geschäfte zunächst erst bei einer Inzidenz von 35 öffnen sollten, jetzt aber schon unter 100 aufmachen dürfen.
Die letzte Ministerpräsidentenkonferenz hat rund neun Stunden gedauert. Das
zeigt: Da wird gerungen. Wir mussten auf ein Gerichtsurteil reagieren, dass die Verhältnismäßigkeit des 35er-wertes problematisierte. Dadurch kommt es zu solchen für die Öffentlichkeit manchmal schwer erklärbaren Beschlüssen.
Aus der CDU hört man häufig den Ruf nach Öffnungen. Wie verantwortbar ist das mit Blick auf die Mutationen?
Eisenmann: Natürlich ist es nach wie vor unsere Aufgabe, die Bevölkerung zu schützen. Auf der anderen Seite geht es um wirtschaftliche Existenzen, vielen steht das Wasser bis zum Hals. Wir stehen nicht dafür, jetzt alles zu öffnen. Aber wir brauchen eine Perspektive, sonst geht die Akzeptanz verloren. Lockdown und keiner geht hin – das hilft uns nicht.
Also hätten Sie früher geöffnet?
Nein. Ich glaube aber, dass es sinnvoll gewesen wäre, wenn wir schon im Januar eine Teststruktur aufgebaut hätten. Immer nur im Windschatten Rad zu fahren – das kann man machen. Man muss aber irgendwann ausscheren, in die Pedale treten und die Spitze übernehmen.
Kretschmann: Ich wüsste nicht, in welchen Windschatten ich mich gestellt haben sollte. Wenn wir durch die Mutanten eine dritte Welle bekämen, wäre der Schaden noch viel größer. Deswegen habe ich immer zu den Vorsichtigen gehört.
Die Pandemie hat das große Digitalisierungsdefizit in den Schulen aufgezeigt.
Eisenmann: Das System Schule darf man nicht losgelöst sehen. Digitale Verwaltung, Glasfaserausbau, schnelles Netz – da ist ganz Deutschland international nicht Standard. Wir haben in dieser Legislaturperiode 1,1 Milliarden Euro in den Glasfaserausbau investiert, und ich gehe davon aus, dass wir in den nächsten fünf Jahren noch einmal eine ähnliche Summe investieren müssen. Inzwischen ist nachgearbeitet worden: In keinem Bereich ist in den letzten Monaten so viel passiert wie im Bildungsbereich. Wir haben 300 000 Laptops in Baden-württemberg angeschafft, haben die Serverkapazitäten hochgefahren, Messengerdienste ausgerollt. Nach Corona dürfen wir da nicht mehr nachlassen.
Es gibt seit langem Klagen über den Unterrichtsausfall. Wie soll der behoben werden?
Eisenmann: Wir haben zu wenige Fachkräfte für die offenen Stellen. Deshalb wurden 2016/2017 die Ausbildungskapazitäten erhöht. Die Kolleginnen und Kollegen werden auch kommen, aber es wird dauern. In den vergangenen Jahren sind zum Teil bis zu 45 Prozent der Lehrer in den Ruhestand gegangen, die man ersetzen musste. Deshalb wäre es nicht unklug gewesen, schon 2014/2015 mit Blick auf die erkennbare Pensionswelle die Ausbildungskapazitäten zu erhöhen.
Also hat die grün-rote Regierung zu wenig in die Zukunft geschaut?
Kretschmann: So einfach ist das nicht. Wir hatten damals die Ansage des Statistischen Landesamtes, dass es zu einem enormen Schülerrückgang kommen würde. Die Einwanderung war so nicht eingeschätzt worden. Ich muss zugeben: Ich war da der Bösewicht. Ich habe mich auf die Zahlen verlassen – und mit einer gewissen Härte einen Abbau eingeleitet, denn das muss ja auch alles bezahlt werden. Aber wir haben das sofort korrigiert, als deutlich wurde, dass die Zahlen des Landesamtes nicht zutrafen.
Frau Eisenmann, die Autoindustrie ist eine Schlüsselindustrie im Südwesten. Sie malen schon das Bild, Baden-württemberg könnte das neue Ruhrgebiet werden. Ist das nicht etwas übertrieben?
Dass wir schon vor der Corona-krise vor einem technologischen, digitalen und ökologischen Strukturwandel standen, ist unbestritten. Daran hängen viele Zulieferer, Mitarbeiter und Familien. Ich glaube, dass man den Automobilstandort mit Technologieoffenheit begleiten muss, aber nicht jede Vorgabe machen sollte.
Herr Kretschmann, sind die Grünen nicht technologieoffen?
Selbstverständlich sind wir technologieoffen. Aber was heißt das? Wir leben in einer Marktwirtschaft und können doch nicht am Markt vorbeiagieren. Wenn man sich heute das Portfolio der deutschen Autohersteller anschaut, sieht man, dass alle auf Batterieelektrik setzen. Ein Ergebnis unseres Dialogs mit den Akteuren der Industrie war deswegen: Wir brauchen ein flächendeckendes Ladenetz, um die Reichweitenangst zu mindern. Seit September 2019 haben wir das fertig. Keine Ladesäule ist mehr als zehn Kilometer von der anderen entfernt.
Eisenmann: Da passt es aber nicht, dass in Ihrem Wahlprogramm steht, dass baldmöglichst jeder zweite Weg mit dem Rad oder zu Fuß zurückgelegt werden sollte. Das ist schon in der Stadt schwierig, auf dem Land ist die Realität völlig anders.
Kretschmann: Das steht unter der Überschrift Innenstädte.
Eisenmann: Und wie kommen Sie in die Innenstadt, wenn Sie 30 Kilometer außerhalb wohnen?
Kretschmann: Sie fahren – mit dem Fahrrad, mit dem Auto oder mit der Bahn. Es geht einzig um die Frage, dass man dort, wo es sinnvoll ist, mit dem Rad fährt. Wie soll man sonst Innenstädte von Autos entlasten? Die Zukunftsvision liegt darin, dass jeder das Verkehrsmittel nutzen kann, das ihm passt, sozial verträglich ist und wenig Emissionen erzeugt.
Inzwischen gibt es „Fridays for Future“und eine Klimaliste, die den Grünen bei der Landtagswahl Konkurrenz machen will. Wie ökologisch ist Baden-württemberg?
Kretschmann: Wir sind sehr, sehr weit vorangekommen, haben die selbstgesteckten Klimaschutzziele eingehalten. Aber wir müssen noch ambitionierter werden, da haben die jungen Leute Recht. Und es kann auch jeder eine eigene Partei gründen. Aber die Klimaschutzpartei sind schon wir. Wir wollten für alle Neubauten verpflichtend Photovoltaik, die Union wollte das nicht. Also gab es einen Kompromiss. Ich finde, das reicht nicht. Oder nehmen Sie die Windkraft: Man braucht heute sieben Jahre von der Auswahl des Ortes bis zum Aufstellen. Das müssen wir beschleunigen.
Eisenmann: Wenn ich für einen Neubau mit Mietwohnungen Solartechnik verordne, was energiewirtschaftlich klug ist, werden die Kosten natürlich auf die Mieter umgelegt. Wohnen ist die soziale Frage dieses Jahrzehnts. Bevor wir also Verpflichtungen schaffen, müssen wir uns Gedanken machen: Wie gelingt es uns, dass sich das auch jeder leisten kann?
Kretschmann: Die Immobilienpreise in Stuttgart sind in 10 Jahren um 100 Prozent gestiegen. Das hat nun wirklich nichts mit ökologischen Auflagen zu tun.
Eisenmann: Bauen ist zu teuer, das steht außer Frage, aber die CDU will nicht, dass es noch teurer wird.
Kretschmann: Aber da muss einem doch nicht ausgerechnet die Solarenergie einfallen, die sich amortisiert und letztlich Ertrag bringt. Wer das nicht auf die Mieter umlegen will, kann sein Dach auch an die Kommune vermieten.
Wie immer haben wir zum Schluss die Bitte um Vervollständigung einiger Sätze.
Herr Kretschmann: Die Zukunft von Boris Palmer sehe ich …
… als Oberbürgermeister von Tübingen. Das will er ja wohl nochmal werden.
Frau Eisenmann: Die Zukunft von Friedrich Merz sehe ich …
… vermutlich im Bundestag.
Frau Eisenmann: Mit Stefan Mappus verbindet mich …
… wenig.
Herr Kretschmann: Mit Jürgen Trittin verbindet mich …
… eine lange politische streitbare Weggefährtenschaft.
Frau Eisenmann: Eine schwarz-rot-gelbe Koalition im Land wäre für mich … … eine Frage, mit der man sich dann befasst, wenn das Wahlergebnis vorliegt.
Herr Kretschmann, eine Ampel-koalition wäre für mich … … denkbar.