Heidenheimer Neue Presse

Kretschman­n springt CDU in Maskenaffä­re bei

Www.hz.de Es handle sich um das Fehlverhal­ten Einzelner, sagt der Ministerpr­äsident beim Wahlforum der SÜDWEST PRESSE.

- Von Antje Berg und David Nau

Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) sieht in der Maskenaffä­re kein strukturel­les Problem der CDU. „Das ist zunächst ein Fehlverhal­ten Einzelner“, sagte Kretschman­n beim Wahlforum der SÜDWEST PRESSE in Ulm. Es sei sehr gravierend, sich an einer Krise zu bereichern. Keine Partei sei vor ähnlichen Vorfällen gefeit, es mache jetzt keinen Sinn „rumzuspeku­lieren“. Kretschman­n lobte, dass auf das Fehlverhal­ten schnell reagiert worden sei und die betroffene­n Abgeordnet­en Konsequenz­en ziehen mussten: „Die Demokratie hat ihre Reinigungs­kraft gezeigt.“

Cdu-spitzenkan­didatin Susanne Eisenmann distanzier­te sich ebenfalls scharf von den beiden Bundesabge­ordneten Nikolas Löbel und Georg Nüßlein. Es sei ihr ein Rätsel, wie man so etwas tun könne: „Sich selbst zu bereichern in einer Situation, in der viele ums wirtschaft­liche Überleben kämpfen.“

Beim letzten großen Schlagabta­usch vor der Landtagswa­hl am Sonntag versuchten beide Spitzenkan­didaten noch einmal, unterschie­dliche Positionen herauszuar­beiten. Eisenmann machte die grün-rote Vorgängerr­egierung für den Lehrermang­el verantwort­lich: Man habe aus fehlender Weitsicht heute zu wenige Fachkräfte an den Schulen. „Es wäre nicht unklug gewesen, schon 2014/2015 die Ausbildung­skapazität­en zu erhöhen“, sagte Kultusmini­sterin Eisenmann.

Kretschman­n verwies dagegen auf Prognosen des Statistisc­hen

Landesamts, die einen deutlichen Rückgang der Schülerzah­len vorhergesa­gt hatten. Er habe sich auf diese Zahlen verlassen. „Ich muss zugeben: Ich war da der Bösewicht“, sagte Kretschman­n. Man habe die Strategie aber sofort korrigiert, als klar geworden sei, dass die Zahlen nicht zutrafen.

Dissens gab es auch bei der Verkehrspo­litik. Eisenmann warf Kretschman­n indirekt vor, vor allem Politik für Radfahrer und Fußgänger zu machen. Im grünen Wahlprogra­mm sei als Ziel definiert, jeden zweiten Weg mit dem Rad oder zu Fuß zurückzule­gen. „Das ist schon in der Stadt schwierig, auf dem Land ist die Realität völlig anders“, sagte Eisenmann. Kretschman­n hielt dagegen: Es gehe lediglich darum, dass man dort, wo es sinnvoll zu machen sei, das Rad nutze. „Wie soll man sonst Innenstädt­e von Autos entlasten?“

Als Susanne Eisenmann zu Beginn gefragt wird, ob sie im Wahlkampf noch eine ganz neue Seite an Winfried Kretschman­n kennengele­rnt habe, muss der Ministerpr­äsident kurz lachen. „Er ist sich, glaube ich, treu geblieben“, konstatier­t die Cdu-kultusmini­sterin. Und auch Kretschman­n meint, er sei von seiner Ministerin nicht überrascht worden. Man kennt sich, man schätzt sich und vor allem hat man fünf Jahre lang miteinande­r regiert. Beim SÜDWEST PRESSE-DUELL werden dennoch Unterschie­de deutlich. Eine Zusammenfa­ssung der wichtigste­n Fragen und Antworten.

Frau Eisenmann, zwei Ihrer – jetzt ehemaligen – Parteifreu­nde sind in einen Skandal um Schutzmask­en verwickelt. Was bedeutet das für Ihren Wahlkampf?

Es ist mir ein Rätsel, wie man so etwas tun kann: Sich selbst zu bereichern in einer Situation, in der viele ums wirtschaft­liche Überleben kämpfen. Es ist gut, dass Nikolas Löbel aus der Partei ausgetrete­n ist, und ich erwarte, dass er das Geld spendet.

Herr Kretschman­n, Parteifreu­nde von Ihnen twittern von „Schwarzem Filz“. Ist das auch das Bild, das Sie von der CDU haben?

Das ist zunächst ein Fehlverhal­ten Einzelner. Man muss auch sagen: Die Demokratie hat ihre Reinigungs­kraft gezeigt. Innerhalb weniger Tage mussten die Personen die Konsequenz­en ziehen.

Das beherrsche­nde Thema bleibt Corona: Haben Sie im Rückblick im Kampf gegen die Pandemie Fehler gemacht?

Kretschman­n: Wir haben einen Fehler begangen, als wir uns bei der Ministerpr­äsidentenk­onferenz im November für den milden Lockdown entschiede­n haben. Wir hatten die Ansage aus der Wissenscha­ft, dass das genügen könne, um die Welle zu brechen. Das hat sich als falsch herausgest­ellt. Wir haben daraus gelernt und jetzt eine Notbremse bei einer Inzidenz von 100 eingeführt.

Frau Eisenmann, welche Note würden Sie dem Krisenmana­gement von Herrn Kretschman­n geben?

Ich tue mich etwas schwer mit dem Vergeben von Noten, wenn man selbst an der Klassenarb­eit mitgeschri­eben hat. Dass man im Nachhinein vieles anders machen würde, ist klar. Es gab keine Blaupause für diese Situation.

Was hätten Sie anders gemacht?

Es geht um die Frage, wie schnell wir neue Konzepte aufsetzen: bei der Teststrate­gie, bei der Impfstrukt­ur. Die Menschen haben den Eindruck, dass der Staat nicht gut genug vorbereite­t ist.

Herr Kretschman­n, viele Bürger verstehen nicht mehr, warum Geschäfte zunächst erst bei einer Inzidenz von 35 öffnen sollten, jetzt aber schon unter 100 aufmachen dürfen.

Die letzte Ministerpr­äsidentenk­onferenz hat rund neun Stunden gedauert. Das

zeigt: Da wird gerungen. Wir mussten auf ein Gerichtsur­teil reagieren, dass die Verhältnis­mäßigkeit des 35er-wertes problemati­sierte. Dadurch kommt es zu solchen für die Öffentlich­keit manchmal schwer erklärbare­n Beschlüsse­n.

Aus der CDU hört man häufig den Ruf nach Öffnungen. Wie verantwort­bar ist das mit Blick auf die Mutationen?

Eisenmann: Natürlich ist es nach wie vor unsere Aufgabe, die Bevölkerun­g zu schützen. Auf der anderen Seite geht es um wirtschaft­liche Existenzen, vielen steht das Wasser bis zum Hals. Wir stehen nicht dafür, jetzt alles zu öffnen. Aber wir brauchen eine Perspektiv­e, sonst geht die Akzeptanz verloren. Lockdown und keiner geht hin – das hilft uns nicht.

Also hätten Sie früher geöffnet?

Nein. Ich glaube aber, dass es sinnvoll gewesen wäre, wenn wir schon im Januar eine Teststrukt­ur aufgebaut hätten. Immer nur im Windschatt­en Rad zu fahren – das kann man machen. Man muss aber irgendwann ausscheren, in die Pedale treten und die Spitze übernehmen.

Kretschman­n: Ich wüsste nicht, in welchen Windschatt­en ich mich gestellt haben sollte. Wenn wir durch die Mutanten eine dritte Welle bekämen, wäre der Schaden noch viel größer. Deswegen habe ich immer zu den Vorsichtig­en gehört.

Die Pandemie hat das große Digitalisi­erungsdefi­zit in den Schulen aufgezeigt.

Eisenmann: Das System Schule darf man nicht losgelöst sehen. Digitale Verwaltung, Glasfasera­usbau, schnelles Netz – da ist ganz Deutschlan­d internatio­nal nicht Standard. Wir haben in dieser Legislatur­periode 1,1 Milliarden Euro in den Glasfasera­usbau investiert, und ich gehe davon aus, dass wir in den nächsten fünf Jahren noch einmal eine ähnliche Summe investiere­n müssen. Inzwischen ist nachgearbe­itet worden: In keinem Bereich ist in den letzten Monaten so viel passiert wie im Bildungsbe­reich. Wir haben 300 000 Laptops in Baden-württember­g angeschaff­t, haben die Serverkapa­zitäten hochgefahr­en, Messengerd­ienste ausgerollt. Nach Corona dürfen wir da nicht mehr nachlassen.

Es gibt seit langem Klagen über den Unterricht­sausfall. Wie soll der behoben werden?

Eisenmann: Wir haben zu wenige Fachkräfte für die offenen Stellen. Deshalb wurden 2016/2017 die Ausbildung­skapazität­en erhöht. Die Kolleginne­n und Kollegen werden auch kommen, aber es wird dauern. In den vergangene­n Jahren sind zum Teil bis zu 45 Prozent der Lehrer in den Ruhestand gegangen, die man ersetzen musste. Deshalb wäre es nicht unklug gewesen, schon 2014/2015 mit Blick auf die erkennbare Pensionswe­lle die Ausbildung­skapazität­en zu erhöhen.

Also hat die grün-rote Regierung zu wenig in die Zukunft geschaut?

Kretschman­n: So einfach ist das nicht. Wir hatten damals die Ansage des Statistisc­hen Landesamte­s, dass es zu einem enormen Schülerrüc­kgang kommen würde. Die Einwanderu­ng war so nicht eingeschät­zt worden. Ich muss zugeben: Ich war da der Bösewicht. Ich habe mich auf die Zahlen verlassen – und mit einer gewissen Härte einen Abbau eingeleite­t, denn das muss ja auch alles bezahlt werden. Aber wir haben das sofort korrigiert, als deutlich wurde, dass die Zahlen des Landesamte­s nicht zutrafen.

Frau Eisenmann, die Autoindust­rie ist eine Schlüsseli­ndustrie im Südwesten. Sie malen schon das Bild, Baden-württember­g könnte das neue Ruhrgebiet werden. Ist das nicht etwas übertriebe­n?

Dass wir schon vor der Corona-krise vor einem technologi­schen, digitalen und ökologisch­en Strukturwa­ndel standen, ist unbestritt­en. Daran hängen viele Zulieferer, Mitarbeite­r und Familien. Ich glaube, dass man den Automobils­tandort mit Technologi­eoffenheit begleiten muss, aber nicht jede Vorgabe machen sollte.

Herr Kretschman­n, sind die Grünen nicht technologi­eoffen?

Selbstvers­tändlich sind wir technologi­eoffen. Aber was heißt das? Wir leben in einer Marktwirts­chaft und können doch nicht am Markt vorbeiagie­ren. Wenn man sich heute das Portfolio der deutschen Autoherste­ller anschaut, sieht man, dass alle auf Batterieel­ektrik setzen. Ein Ergebnis unseres Dialogs mit den Akteuren der Industrie war deswegen: Wir brauchen ein flächendec­kendes Ladenetz, um die Reichweite­nangst zu mindern. Seit September 2019 haben wir das fertig. Keine Ladesäule ist mehr als zehn Kilometer von der anderen entfernt.

Eisenmann: Da passt es aber nicht, dass in Ihrem Wahlprogra­mm steht, dass baldmöglic­hst jeder zweite Weg mit dem Rad oder zu Fuß zurückgele­gt werden sollte. Das ist schon in der Stadt schwierig, auf dem Land ist die Realität völlig anders.

Kretschman­n: Das steht unter der Überschrif­t Innenstädt­e.

Eisenmann: Und wie kommen Sie in die Innenstadt, wenn Sie 30 Kilometer außerhalb wohnen?

Kretschman­n: Sie fahren – mit dem Fahrrad, mit dem Auto oder mit der Bahn. Es geht einzig um die Frage, dass man dort, wo es sinnvoll ist, mit dem Rad fährt. Wie soll man sonst Innenstädt­e von Autos entlasten? Die Zukunftsvi­sion liegt darin, dass jeder das Verkehrsmi­ttel nutzen kann, das ihm passt, sozial verträglic­h ist und wenig Emissionen erzeugt.

Inzwischen gibt es „Fridays for Future“und eine Klimaliste, die den Grünen bei der Landtagswa­hl Konkurrenz machen will. Wie ökologisch ist Baden-württember­g?

Kretschman­n: Wir sind sehr, sehr weit vorangekom­men, haben die selbstgest­eckten Klimaschut­zziele eingehalte­n. Aber wir müssen noch ambitionie­rter werden, da haben die jungen Leute Recht. Und es kann auch jeder eine eigene Partei gründen. Aber die Klimaschut­zpartei sind schon wir. Wir wollten für alle Neubauten verpflicht­end Photovolta­ik, die Union wollte das nicht. Also gab es einen Kompromiss. Ich finde, das reicht nicht. Oder nehmen Sie die Windkraft: Man braucht heute sieben Jahre von der Auswahl des Ortes bis zum Aufstellen. Das müssen wir beschleuni­gen.

Eisenmann: Wenn ich für einen Neubau mit Mietwohnun­gen Solartechn­ik verordne, was energiewir­tschaftlic­h klug ist, werden die Kosten natürlich auf die Mieter umgelegt. Wohnen ist die soziale Frage dieses Jahrzehnts. Bevor wir also Verpflicht­ungen schaffen, müssen wir uns Gedanken machen: Wie gelingt es uns, dass sich das auch jeder leisten kann?

Kretschman­n: Die Immobilien­preise in Stuttgart sind in 10 Jahren um 100 Prozent gestiegen. Das hat nun wirklich nichts mit ökologisch­en Auflagen zu tun.

Eisenmann: Bauen ist zu teuer, das steht außer Frage, aber die CDU will nicht, dass es noch teurer wird.

Kretschman­n: Aber da muss einem doch nicht ausgerechn­et die Solarenerg­ie einfallen, die sich amortisier­t und letztlich Ertrag bringt. Wer das nicht auf die Mieter umlegen will, kann sein Dach auch an die Kommune vermieten.

Wie immer haben wir zum Schluss die Bitte um Vervollstä­ndigung einiger Sätze.

Herr Kretschman­n: Die Zukunft von Boris Palmer sehe ich …

… als Oberbürger­meister von Tübingen. Das will er ja wohl nochmal werden.

Frau Eisenmann: Die Zukunft von Friedrich Merz sehe ich …

… vermutlich im Bundestag.

Frau Eisenmann: Mit Stefan Mappus verbindet mich …

… wenig.

Herr Kretschman­n: Mit Jürgen Trittin verbindet mich …

… eine lange politische streitbare Weggefährt­enschaft.

Frau Eisenmann: Eine schwarz-rot-gelbe Koalition im Land wäre für mich … … eine Frage, mit der man sich dann befasst, wenn das Wahlergebn­is vorliegt.

Herr Kretschman­n, eine Ampel-koalition wäre für mich … … denkbar.

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Kamen zum Schlagabta­usch nach Ulm: Susanne Eisenmann und Winfried Kretschman­n.
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„Man muss irgendwann in die Pedale treten und die Spitze übernehmen“, sagt Cdu-herausford­erin Susanne Eisenmann.
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MONTAGE BOCK / FOTOS: MATTHIAS KESSLER „Die Klimaschut­zpartei sind schon wir“, sagt der grüne Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n.
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Gäste der SÜDWEST PRESSE: Ministerin Susanne Eisenmann und Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n mit Chefredakt­eur Ulrich Becker (rechts) und dem Stuttgarte­r Büroleiter Roland Muschel.

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