Mut und Risiko
Die Corona-krise hat unseren Fokus verschoben. Das gilt nicht nur für das alltägliche Leben. Es gilt auch im Hinblick auf andere Länder, deren Krisenmanagement uns neidisch macht. Wie Chile. Das südamerikanische Land hat sich gerade an die Spitze der Impftabelle vorgearbeitet und ist an Israel vorbeigezogen. Nirgendwo sonst auf der Welt sind in den letzten sieben Tagen – bezogen auf die Einwohnerzahl – mehr Menschen immunisiert worden als dort.
Wir hingegen, immer noch versehen mit dem verblassenden Nimbus des Organisationsweltmeisters, dümpeln hinterher. Langsamer als Malta, Serbien oder Dänemark. Meilenweit entfernt von Großbritannien, den USA oder Israel. Was sind die Gründe dafür? Liegt es wirklich an der vermeintlichen Unfähigkeit des politischen Spitzenpersonals? Oder liegt das Problem tiefer, steckt hinter dem Versagen von Politik und Verwaltung eine strukturelle Ursache?
Die Grundlage für deutsche Effizienz – in Wirtschaft und Behörden – liegt in der Analyse von Prozessen und ihr Auflösen in eine Abfolge einzelner, klar definierter Schritte. Bevor wir ein Problem nicht durchdacht haben, packen wir es nicht an. Die Mentalität amerikanischer Unternehmer – „get going“, also einfach machen – liegt uns fern. Erst die Durchdringung des Vorgangs macht uns sicher, dass wir ihn beherrschen können. Das führt durchaus zu faszinierenden Ergebnissen. Noch immer klappen Großveranstaltungen in diesem Land meist reibungslos. In Verwaltungen – zumindest außerhalb Berlins – sind Abläufe gesichert und in den überwiegenden Fällen führen sie in angemessener Zeit zu Ergebnissen.
Diese Art der Arbeit hat zwei Vorteile: Sie macht den Vorgang beherrschbar und sie sichert den Einzelnen in seinem Tun ab. Er oder sie kann keinen Fehler machen, solange die Dienstvorschrift eingehalten wird. Ein Scheitern ist also unmöglich, niemand kann versagen. Unter normalen Umständen ein großartiges Modell.
Scheint ein unbekanntes Problem auf, versagt dieses System. Alle machen zwar weiterhin alles richtig – das Ergebnis ist jedoch desaströs. Denn in einer Krise, die mit einer Wucht wie Corona über uns hereinbricht, sind Kompetenzen gefragt, die das deutsche Modell nicht vorsieht: den Mut, Risiken einzugehen und dabei auch Fehler zu machen.
Die Krisen der Zukunft werden uns vor Fragen stellen, die unsere Abläufe über den Haufen werfen.
In den Ländern, die uns weit voraus sind, ist dies geschehen. In Großbritannien organisiert eine Finanzmanagerin die Beschaffung des Impfstoffs, in den USA wird in Drogeriemärkten geimpft. In Deutschland wird stattdessen wochenlang – natürlich streng entlang aller Vorschriften – über die Zulassung von Astra-zeneca für Ältere diskutiert. Woanders waren da bereits Millionen Menschen jeden Alters mit dem Mittel geimpft.
Darum geht es: Das Problem anzugehen, bevor wir untergehen. Die Krisen der Zukunft – ob neue Pandemien oder die Folgen des Klimawandels – werden uns vor Fragen stellen, die all unsere gewohnten Abläufe über den Haufen werfen. Die Antworten darauf sind Mut und Risikobereitschaft. Von beidem hat dieses Land zu wenig.