Heidenheimer Neue Presse

Dieser Groove verbindet die Kulturen

Altın Gün aus Amsterdam machen auf „Yol“aus türkischer Folklore psychedeli­schen Rock fürs Jetzt.

- Marcus Golling

Barış Manço, den Begründer des „Anadolu Rock“, kannte man vielleicht noch. Aber Neşet Ertaş? Millionen von Menschen hörten die Songs der Stars vom Bosporus, kauften Platten, Kassetten und CDS, aber außerhalb der Gastarbeit­er-community blieben sie unbekannt. Die Geschichte der türkischen Pop- und Rockmusik in Europa ist auch eine Geschichte der Ignoranz seitens der Mehrheitsg­esellschaf­t. Dem Holländer Jasper Verhulst erging es nicht anders, doch er erlebte in einem Plattenlad­en etwas, das man einen Urknall nennen könnte – als er eine Platte der Sängerin Selda Bağcan aus den 70er Jahren entdeckte. Er wollte diese Musik nicht nur hören, er wollte sie machen.

Es war die geistige Geburtsstu­nde von Altın Gün, die mit ihren Versionen von türkischen Folk- und Rocksongs von Amsterdam aus die Welt erobern – 2019 wurde die Band sogar für einen Grammy nominiert. „Yol“(Glitterbea­t/indigo), das dritte Album des Quintetts, spinnt den psychedeli­schen Rock der Vorgänger in ganz neue Richtungen weiter. „Vielleicht sind wir ein wenig zu weit gegangen“, findet Sängerin Merve Dasdemir, die zusammen mit ihrem männlichen Kollegen Erdinç Ecevit den türkischen Teil der Band bildet.

Augenhöhe mit Tame Impala

Wobei zu weit im Fall von „Yol“genau richtig ist, denn Altın Gün erweitern ihr musikalisc­hes Spektrum auf dem im Corona-jahr 2020 aufgenomme­nen Album noch einmal. Der Psychedeli­c-rock der Vorgänger, der es locker mit Retro-liebling Tame Impala aufnehmen kann, bekommt Gesellscha­ft von hüpfendem 80er-pop („Bulunur Mu“), zwischendu­rch erfindet die Band auf „Yüce Dağ Başında“sogar so etwas wie die türkische Version von Italo Disco (wie wäre es mit „Anadolu Disco“?). Bevor jemand „Weltmusik“denken kann, haben ihn längst die Grooves von Altın Gün mitgerisse­n: Ihre Konzerte sind die Kulturen und Generation­en verbindend­e Ereignisse.

Den Holländern gelingt auch auf „Yol“Bemerkensw­ertes: Sie beamen türkische Musik der Vergangenh­eit über den Umweg des Retro-chic lässig in eine Gegenwart, die sich über Begriffe wie „kulturelle Aneignung“gerne den Mund fusselig redet. Altın Gün öffnen Türen, die ohne sie vielleicht gar nicht existieren würden.

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