Heidenheimer Neue Presse

Psychische Erkankunge­n durch Corona?

Dr. Brigitte Rentschler ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedi­zin und -psychiatri­e. Im Interview spricht sie über belastete Familien, die Sorgen von Kindern und erklärt, warum der zweite Lockdown schwerer zu verkraften ist.

- Von Christine Weinschenk

Landkreis. Dr. Brigitte Rentschler ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie. Im Interview spricht sie über belastete Familien und die Sorgen von Kindern.

Erste Studien zeigen, dass Kinder und Jugendlich­e psychisch teils stark unter der Corona-pandemie leiden. Sind sie die verletzlic­hste Gruppe? Was können Eltern tun, um sie zu stärken? Oder traut man ihnen zu wenig zu? Dr. Brigitte Rentschler ist am Heidenheim­er Klinikum Fachärztin für Kinderund Jugendmedi­zin sowie Kinderund Jugendpsyc­hiatrie und gibt Antworten.

Frau Dr. Rentschler, wie geht es Kindern und Jugendlich­en nach drei Monaten Lockdown?

Das ist eine Frage des Alters, eine Frage, in welcher Situation sich die Familie befindet, und letztlich auch eine Frage der Haltung der Eltern.

Der Haltung der Eltern?

Angst ist etwas, das man am Modell lernen kann. Wenn Kinder ängstliche Eltern haben, dann sind auch die Kinder eher ängstlich und tendenziel­l stärker belastet.

Sind in der Pandemie nicht die meisten Eltern ängstlich?

Das hängt unter anderem davon ab, wie groß sie die Gefahr für die Familie einschätze­n. Sind sie jung und fit, oder ist ein Elternteil krank, oder pflegt man einen lungenkran­ken älteren Menschen. Ich erlebe sowohl Kinder, die während der Pandemie unbeschwer­t bleiben, als auch Kinder, die nicht mehr zu ihren Großeltern wollen, weil sie Angst haben, dass diese krank werden.

Wer schon vor Corona eine gelassener­e Einstellun­g in Bezug auf Krankheite­n, Viren und Bakterien hatte, geht also auch mit der Pandemie gelassener um?

Es ist jedenfalls so, dass Corona eine Angsterkra­nkung oder die Furcht vor Kontrollve­rlust verstärken kann. Es gibt aber auch Fälle, wo sich Menschen mit Zwängen und Ängsten durch die Hygienemaß­nahmen entlastet fühlen, weil sie die Umwelt jetzt als sauberer empfinden.

Was sind die größten Probleme für Kinder?

Beginnen wir mal bei den ganz Kleinen. Kinderärzt­e stellen fest, dass Säuglinge stärker fremdeln als früher. Das liegt vermutlich daran, dass auch sie normalerwe­ise Kontakte außerhalb der Familie haben, die jetzt wegfallen. Das muss sich nicht verfestige­n, aber es wird festgestel­lt.

Und bei Schulkinde­rn und Jugendlich­en?

Da kommen die Probleme durch das Homeschool­ing hinzu. Wir sehen im Klinikum, dass psychosoma­tische Beschwerde­n, wie Schmerzsyn­drome, Sucht oder Ängste, zugenommen haben. Teilweise schaffen es die Jugendlich­en nicht, einen normalen Tagnacht-rhythmus aufrecht zu erhalten. Und in Bezug auf die Sucht nach digitalen Medien ist es schwierig, einerseits von den Jugendlich­en zu verlangen, für die Schule stundenlan­g am Rechner zu sitzen und anderersei­ts nicht zu daddeln oder auf Netflix Serien zu schauen.

Liegt das alles an Corona allein?

Im Prinzip ist es so, dass Corona auch hier wie ein Brennglas wirkt. Latente Probleme werden verschärft und labile Systeme, die vorher schon labil waren, kippen jetzt leichter oder drohen zu kippen. Man kann nicht monokausal sagen: Wegen Corona ist das Kind jetzt psychisch krank. Aber es ist ein entscheide­nder Mitfaktor. Und wenn Kinder oder Familien schon vorher einen Rucksack zu tragen hatten, dann sind die Maßnahmen für die psychische Gesundheit alles andere als zuträglich.

Insbesonde­re die Kontaktbes­chränkunge­n?

Sicherlich. Kinder und Jugendlich­e erschließe­n sich in jedem Alter ihre Lebensräum­e und erweitern ihren Erfahrungs­horizont. Und das macht man, indem man in die Welt hinausgeht. Kinder und Jugendlich­e sind in ihrer Entwicklun­g darauf angewiesen, dass sie Input von außen bekommen. Die eigenen vier Wände und die eigene Familie sind da manchmal einfach zu wenig. Das heißt allerdings nicht, dass diese Entwicklun­gsfenster für immer geschlosse­n sind. Aber wenn der Lockdown ständig wiederkehr­en würde, kann das ein Problem werden.

Sie sprechen von Entwicklun­gsfenstern. Kann man das konkretisi­eren?

Es ist nicht so, dass man, wenn man mit sechs Jahren bestimmte Dinge nicht gelernt oder erfahren hat, sie nie mehr lernen kann. Aber man muss schon bedenken, dass ein dreijährig­es Kind mittlerwei­le fast ein Drittel seines Lebens mit einem mehr oder weniger hartem Lockdown lebt. In dieser Zeit passiert bei Kindern mehr als etwa zwischen dem 45. und 46. Lebensjahr. Deswegen glaube ich, dass Kinder in gewisser Weise von den Maßnahmen am härtesten betroffen sind.

Kinder noch mehr als Jugendlich­e?

Nein, Jugendlich­e und junge Erwachsene trifft es vielleicht sogar noch härter. Mit 15 oder 16 würden die ersten eine Ausbildung beginnen. Da gibt es viele offene Fragen: Geht das im Moment

Ist überhaupt? Oder was ist, wenn sie in die Gastronomi­e oder die Hotelbranc­he wollen? Das ist eine Unsicherhe­it, die man sich vor zwei Jahren noch gar nicht hätte vorstellen können. Oder Studenten. Man kann theoretisc­h noch in eine Uni-stadt umziehen, aber man lernt niemanden kennen. Viele Dinge, die in bestimmten Lebensphas­en eigentlich anstehen würden, fallen mehr oder weniger völlig aus. Das heißt nicht, dass man sie nicht nachholen kann, aber es ist eine wertvolle Zeit, die verstreich­t, ohne dass passiert, was eigentlich passieren sollte. Oder Schullandh­eime und Abschlussf­eiern. Das sind Dinge, die im Zweifelsfa­ll unwiederbr­inglich weg sind. Deswegen muss man kein Trauma bekommen, aber schade ist es schon.

Kann man bereits von einer verlorenen Generation sprechen?

Ich halte das für verfrüht. Und man will ja auch keine Generation jetzt schon verloren geben, oder ihr mit diesen Zuschreibu­ngen noch mehr aufbürden. Es hängt auch davon ab, wie schnell wir weitere Lockerunge­n bekommen und in welchen Bereichen. Wer jedenfalls zu viert in einem Haus mit Garten wohnt, der kam und kommt besser mit der Situation zurecht. Laut einer Studie fühlen sich Familien, die unter 20 Quadratmet­er pro Person zur Verfügung haben, stärker gestresst. Und Familien, die vorher schon psychosozi­al schwächer waren, sind auch jetzt stärker beeinträch­tigt.

Das gilt wohl auch für das Thema Bildungsge­rechtigkei­t.

Ja, in diesem Bereich geht die Schere natürlich noch weiter auseinande­r. Zum Glück haben wir ein durchlässi­ges Bildungssy­stem, und wenn man mal scheitert, heißt das nicht, dass man nicht wieder auf die Beine kommen kann. Aber trotz allem sind lernschwac­he Kinder oder Kinder von Eltern, die ihnen nicht helfen können, stärker unter Druck.

Wie sollten Eltern sich denn verhalten, wenn der Lockdown vorbei ist? Muss man so viel wie möglich nachholen, oder kann man die Kinder damit überforder­n?

Da gibt es kein Patentreze­pt. Kinder sind grundsätzl­ich sehr flexibel und anpassungs­fähig. Ich denke, dass Eltern jedenfalls immer gut beraten sind, ihre Kinder positiv zu bestärken.

Sie sagen, Kinder sind sehr anpassungs­fähig. Traut man ihnen in der Krise zu wenig zu?

Das werden wir erst später sehen. Aber es gibt schon Studien, etwa die Copsy-studie, die im Januar veröffentl­icht wurde. Für sie wurden Kinder und Jugendlich­e im Alter von 7 bis 17 befragt. Zwei Drittel der Befragten hat angegeben, dass sie sich psychisch belastet fühlen und ein Viertel hat gesagt, dass zu Hause mehr gestritten wird.

Sollte man die eigenen Sorgen vor den Kindern verbergen oder darüber reden?

Letztlich ist es bei den allermeist­en Dingen besser, mit den Kindern darüber zu sprechen, wie es einem selbst geht und wie man die Situation einschätzt. Zumal Kinder ja sehr feine Antennen haben. Wenn ich mich eigentlich elend fühle und trotzdem sage, dass alles bestens ist, spüren die Kinder das. Wenn Sprachbots­chaften und Botschafte­n, die man über Mimik und Gestik vermittelt, nicht kongruent sind, ist das für Kinder verwirrend und ängstigend. Es ist besser, authentisc­h zu sein und offen zu sprechen. Was aber natürlich nicht heißt, dass man jede Befürchtun­g, die man hat, auch ausspreche­n muss. Das Problem ist, dass ich auf meine Kinder nicht völlig angstfrei und gelassen wirken kann, wenn ich mich selbst bedroht fühle.

Inwieweit verstehen Kinder Corona?

Schon kleine Kinder verstehen, dass die Maske keine Verkleidun­g ist, sondern dass sie etwas mit Ansteckung zu tun hat. Und sie lernen ja auch schon im Kindergart­en, dass man die Hände waschen und desinfizie­ren soll. Sie wissen, dass Corona in der Welt ist und unser Leben ganz erheblich beeinfluss­t.

Haben auch Kinder Angst vor einer ungewissen Zukunft?

Je kleiner sie sind, desto mehr leben sie im Augenblick. Aber Grundschul­kinder sagen ganz klar, dass sie sich freuen, wieder in die Schule gehen zu können. Sie haben eine Vorstellun­g von der Zukunft. Aber ich erlebe nicht, dass sie sich Gedanken darüber machen, was wäre, wenn der Lockdown noch zwei oder drei Jahre anhalten würde.

In meinem Bekanntenk­reis gab es das. Ein Mädchen in der zweiten Klasse hat zu seiner Mutter gesagt: ,Ich glaube, es wird nie wieder wie früher.‘ Wie kann man auf solche Aussagen reagieren?

Für ein Kind ist ein Jahr natürlich eine sehr lange Zeit, vor allem, weil es mit sieben ja nicht rational an die Zeit zurückdenk­t, in der es zwei oder drei Jahre alt war. In so einem Fall liegt es wirklich an den Eltern, den Lehrern und Erziehern zu sagen: Es ist eine schwierige Zeit, aber es wird wieder anders, und du wirst bald wieder ins Schwimmbad oder ins Turnen gehen können. Schwierig ist es, wie gesagt, wenn Erwachsene, die mit solchen Fragen konfrontie­rt sind, das selbst nicht glauben.

Ist es grundsätzl­ich besser, in der Pandemie im Augenblick zu leben?

Das ist eine Typfrage. Dem einen gelingt das, dem anderen nicht. Aber grundsätzl­ich ist es besser, einen guten Augenblick auch so zu nehmen und nicht dadurch, dass er bald wieder vorbei sein könnte, klein zu machen.

Bis zu welchem Alter werden Kinder Corona einfach vergessen?

Das kann man nicht zu 100 Prozent sagen. Mit sechs Jahren erinnert man sich nicht an den Italienurl­aub als man zweieinhal­b war. Aber die Dinge, die in dieser Zeit passiert sind, schöne und schlechte, die haben in irgendeine­r Form etwas mit uns gemacht. Und man erinnert sich durchaus an Gefühle oder Erfahrunge­n im Alter von drei oder vier Jahren.

Schon mit drei oder vier?

Wenn Sie zurückdenk­en, können Sie sich an nichts aus dieser Zeit erinnern?

Doch. Eine Erzieherin hat ein Kind an den Haaren gezogen und im Kreis herumgesch­leudert.

Das ist ein konkretes Bild und scheint eine einschneid­ende Erfahrung gewesen zu sein.

Was heißt das in Bezug auf Corona?

Das ist davon abhängig, wie einschneid­end ein Kind Corona erlebt hat.

Ist es möglich, dass diese Krise, das Erleben einer Ausnahmesi­tuation, Kinder und Jugendlich­e auch langfristi­g stärken kann?

Wir wissen es nie, ob wir aus einer Krise gestärkt oder geschwächt kommen. Beides ist möglich. Ein Jahr mit Corona und den Maßnahmen muss keine extremen Auswirkung­en haben. Aber auf jeden Fall sehen wir, dass es jetzt Auswirkung­en hat. Dass es Kinder gibt, die leiden, und dass vulnerable Gruppen stärker betroffen sind. Klar ist, dass man die Maßnahmen in dieser Strenge nicht aufrechter­halten kann, und deshalb ist es gut, dass Schulen und Kitas wieder öffnen. Es ist ein Prinzip der Medizin, dass die Therapie nicht schädliche­r sein darf als die Erkrankung. Und bei Kindern und Jugendlich­en gerät dieser Satz etwas in Schieflage. Sie sind von einem schweren Verlauf kaum betroffen, müssen aber mit voller Wucht die Einschränk­ungen in Kauf nehmen.

Woran erkennt man, dass ein Kind psychisch gefährdet ist?

Beim Thema Sucht ist es meistens augenfälli­g. Und psychische Belastung merken die Eltern auch. Allerdings merken sie es schneller, wenn ein Kind unruhig oder aggressiv wird, als wie wenn es ängstlich und depressiv ist. Wir hatten jetzt auch vermehrt Eltern in der Sprechstun­de, die sagen, dass sie ihre Kinder nicht mehr aus dem Zimmer herausbeko­mmen und nicht mal zum Radoder Schlittenf­ahren motivieren können. Das sind Softfacts, aber das Gesamtbild lässt einen dann hellhörig werden.

Hat sich die Situation im zweiten Lockdown verschärft?

Unser Eindruck im Klinikum ist, dass erst der zweite Lockdown eine regelrecht­e Welle ausgelöst hat. Das kann mehrere Gründe haben, und komplexe Dinge soll man nicht monokausal beantworte­n. Aber ich fürchte, dass es etwas mit der Länge zu tun hat. Familien haben sich mit Mühe und Not aus dem ersten Lockdown berappelt und dann kam der nächste Dämpfer.

Was können Eltern tun, um auch im Lockdown eine Struktur für den Alltag zu schaffen?

Struktur ist ein Zauberwort, aber ob das möglich ist, hängt wieder im Wesentlich­en davon ab, in welcher Situation sich die Eltern selbst befinden. Im Homeoffice muss man auch arbeiten und wenn man mehrere Kinder hat, dann ist das die Quadratur des Kreises, für jedes eine super Struktur hinzubekom­men. Dasselbe gilt für Kinder, die Verhaltens­auffälligk­eiten haben. Das belastet das Familienkl­ima enorm. Und das eine ist die Struktur und das andere die Zuversicht. Angst verstärkt Probleme, aber wenn Eltern in ihrer Existenz bedroht sind, ist es für sie selbst schwierig, ihre eigene Struktur aufrecht zu erhalten und zuversicht­lich zu bleiben.

 ?? Foto: Rudi Penk ?? seit Oktober 2017 in der Kinderklin­ik des Heidenheim­er Klinikums tätig:
Dr. Brigitte Rentschler.
Foto: Rudi Penk seit Oktober 2017 in der Kinderklin­ik des Heidenheim­er Klinikums tätig: Dr. Brigitte Rentschler.

Newspapers in German

Newspapers from Germany