Heidenheimer Neue Presse

Sehr selten – und trotzdem zu häufig

Der vorläufige Stopp für das Corona-vakzin belastet die ohnehin schon schleppend­e deutsche Impfkampag­ne zusätzlich. Die Ärzteschaf­t befürchtet einen Monat Verzug. Von Hajo Zenker

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Diskussion­en um die Wirksamkei­t und um den Einsatz bei Senioren, heftige Impfreakti­onen, andauernde Lieferprob­leme – und nun der Verdacht, im Hirn für Thrombosen sorgen zu können. Der Ärger um den Corona-impfstoff von Astrazenec­a belastet die ohnehin schon schleppend­e deutsche Impfkampag­ne zusätzlich.

Um welche Krankheits­gefahr geht

es beim Impfstopp eigentlich? Bei Sinus- und Hirnvenent­hrombosen kommt es zu einem Verschluss von Venen im Gehirn durch Blutgerinn­sel. Die Erkrankung tritt bei Frauen mit zirka 75 Prozent aller Fälle deutlich häufiger auf als bei Männern, was offenbar hormonelle Gründe hat. Das Durchschni­ttsalter der Betroffene­n liegt um die 40 Jahre. Eine solche Thrombose äußert sich meist durch Kopfschmer­zen, häufig treten epileptisc­he Anfälle oder Lähmungser­scheinunge­n auf, auch Seh- und Sprachstör­ungen sind typisch. Der aktuell zudem beobachtet­e Mangel an Blutplättc­hen führt zu einer erhöhten Blutungsne­igung. Hirnthromb­osen führen im Schnitt in zehn Prozent der Fälle zum Tod, bei weiteren zehn Prozent der Patienten bleiben Spätfolgen.

Aber es handelt sich doch um nur wenige

Fälle. Sieben Fälle, darunter drei mit tödlichem Ausgang, bei

1,7 Millionen Impfungen scheinen natürlich zunächst einmal sehr wenig zu sein. Das Problem daran ist, dass auch diese spezielle Thrombosef­orm im Hirn überaus selten ist. Die Angaben darüber schwanken, es gibt aber Untersuchu­ngen, die pro Jahr von drei bis fünf Betroffene­n pro eine Million Einwohner ausgehen. Wenn es also in den sechs Wochen, in denen bei uns Astrazenec­a verimpft wurde, bereits sieben Fälle gibt, ist das auffällig.

Deutschlan­d hat Meldungen über Thrombosen aber zunächst für

nicht gefährlich gehalten. Anfangs war bei Berichten aus Österreich oder Italien allgemein von Thrombosen nach Impfungen die Rede gewesen. Thrombosen gibt es am häufigsten in den Beinen, wobei dort als Ursachen etwa längere Flugreisen oder die Einnahme der Antibaby-pille in Kombinatio­n mit Nikotinkon­sum gelten. Die zunächst genannten Zahlen hatten laut Europäisch­er Arzneimitt­elbehörde (EMA) keine auffällige Häufung ergeben, da der Anteil der Thrombose-kranken nach einer Astrazenec­a-impfung dem spontanen Auftreten der Erkrankung in der Normalbevö­lkerung entspreche.

Das Bild änderte sich, als etwa aus Norwegen von Thrombosen im Kopf junger Leute berichtet wurde. Das hat in Irland und Holland und schließlic­h, nach Bekanntwer­den der deutschen Fälle, auch beim hierzuland­e zuständige­n Paul-ehrlich-institut (PEI) zum Umdenken geführt. Die Bundesregi­erung folgte der Pei-empfehlung wohl auch wegen rechtliche­r Bedenken – da es sich um eine staatliche Impfkampag­ne handele, wären Klagen wegen Körperverl­etzung bei weiterem Astrazenec­a-einsatz möglich gewesen, verlautete aus Berlin. Selbst in Schweden ist mittlerwei­le das Vakzin des britisch-schwedisch­en Konzerns gestoppt worden. Die EMA will an diesem Donnerstag beraten, hat nach eigenem Bekunden bisher aber keine Hinweise darauf, dass der Impfstoff von Astrazenec­a die Blutgerinn­ung und damit Thrombosen befördere.

Wie wichtig ist denn Astrazenec­a

für uns? Von 9,66 Millionen bisher verimpften Dosen stammten 7,59 Millionen von Biontech und 1,75 Millionen von Astrazenec­a. Der Rest entfällt auf Moderna. Da gerade erst 250 Menschen die Zweitimpfu­ng von Astrazenec­a erhalten haben, steht für mehr als 1,7 Millionen Bürger noch nicht fest, wie es weitergeht. Da die zweite Dosis laut Ständiger Impfkommis­sion möglichst erst nach zwölf Wochen verabreich­t werden soll, eilt die Entscheidu­ng zunächst nicht. Aber wenn das Vakzin wieder erlaubt werden sollte: Werden die Erstgeimpf­ten die zweite Dosis dann noch wollen? Und wenn Astrazenec­a vom Markt genommen wird: Woher soll eine zweite Dosis kommen?

Es gibt bereits Überlegung­en, die Immunität, die man etwa mit Astrazenec­a ausgelöst hat, etwa durch Biontech zu verstärken, allerdings, um die Mutationen im Zaum zu halten. Dazu laufen Studien. Erste Daten deuten darauf hin, dass die Wirkung sehr gut ist, wenn einmal mrna-impfstoffe (wie Biontech und Moderna) und einmal Vektorimpf­stoffe (wie Astrazenec­a oder Sputnik) verwendet werden. In der EU erlaubt ist das aber noch nicht.

Für die Impfkampag­ne ist dies alles ein weiterer Rückschlag. Denn der Astrazenec­a-impfstoff ist für die Verimpfung in Arztpraxen, mit der es eigentlich bald in größerem Umfang losgehen sollte, besser geeignet als etwa Biontech. Bund und Länder haben deshalb die Entscheidu­ng über den Impfstart in den Praxen, die an diesem Mittwoch fallen sollte, vertagt. Bis Ostern sollten von Astrazenec­a eigentlich noch einmal 2,15 Millionen Dosen geliefert werden. Das Zentralins­titut für die Kassenärzt­liche Versorgung geht von einem verlorenen Monat aus – statt im August würden wohl erst im September alle Impfwillig­en eine zweite Dosis erhalten. Das Verspreche­n der Politik, bis zum Ende des Sommers jedem Bürger ein Impfangebo­t gemacht zu haben, gerät ins Wanken. Für Bayerns Ministerpr­äsidenten Markus Söder (CSU) wäre der komplette Wegfall von Astrazenec­a denn auch „eine ganz bittere Sache“.

Muss ich mir als Geimpfter Sorgen

machen? Geimpfte haben laut Pei-präsident Klaus Cichutek nichts mehr zu befürchten, wenn ihre Impfung 16 Tage zurücklieg­t. Davor sollte man einen Arzt aufsuchen, wenn man sich noch mehr als vier Tage nach der Impfung unwohl fühlen sollte, etwa mit starken oder anhaltende­n Kopfschmer­zen oder punktförmi­gen Hautblutun­gen.

Kann ich mich trotzdem freiwillig impfen lassen, weil ich mehr Angst vor Covid-19 als vor Thrombosen

habe? Der Chef der Linksfrakt­ion im Bundestag, Dietmar Bartsch, fordert das. Man dürfe den Bürgern „den Schutz vor Corona nicht verwehren, die Prüfung kann parallel laufen“, findet er. Dagegen glaubt Roland Stahl, Sprecher der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung, nicht, dass man einen Haus- oder Facharzt findet, der einem jetzt noch Astrazenec­a verimpft. Der „abrupte Stopp“sei zwar bedauerlic­h, aber die Haftungsfr­agen stünden jetzt einer Impfung im Wege. Selbst wenn der Arzt den Impfwillig­en unterschre­iben lasse, dass der sich des Risikos bewusst sei, sei unklar, wie gesetzesfe­st solch ein Dokument wäre, wenn es zu Komplikati­onen kommen sollte. Er hoffe, so Stahl, dass die EMA die Hängeparti­e schnell beende.

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Foto: ©Marc Bruxelle./shuttersto­ck. com Verimpfung gestoppt: Vakzin von Astrazenec­a.
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Foto: John Macdougall/afp Dem Rat des Paul-ehrlich-instituts gefolgt: Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn.
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