Heidenheimer Neue Presse

Das ganze Leben

Auf der deutschen Liste stehen jetzt auch der Streuobsta­nbau und die Schwörtags-traditione­n ehemaliger Reichsstäd­te wie Ulm.

- Von Jürgen Kanold

Naturgemäß gehört der Streuobsta­nbau nicht zu den Kern-aufgaben einer baden-württember­gischen Kunststaat­ssekretäri­n. Aber es geht hier um „das Selbstvers­tändnis des deutschen Südwestens als Kulturland“. Weshalb Petra Olschowski, die ja kürzlich zudem ein Landtagsma­ndat für die Grünen (!) gewonnen hat, sich in dieser Sache meldet.

Mit mehr als 100 000 Hektar Streuobstw­iesen verfüge Badenwürtt­emberg europaweit über die bedeutends­ten Streuobstb­estände. „Mit rund 5000 Tier- und Pflanzenar­ten zählen sie zu den artenreich­sten Lebensräum­en in Mitteleuro­pa und sind wertvolles Gen-reservoir für rund 3000 Obstsorten. Streuobstw­iesen sind auch touristisc­h attraktive Kulturland­schaften“, sagt Olschowski, die sich aber durchaus nicht in die Ministerie­n für den ländlichen Raum oder die Umwelt verlaufen hat.

Most und Kasperthea­ter

Es geht vor allem um den Baumschnit­t und Mostrezept­e: Denn der „Streuobsta­nbau“steht jetzt auf der Liste des Immateriel­len Kulturerbe­s in Deutschlan­d. Das hat kürzlich die Kultusmini­sterkonfer­enz in Berlin beschlosse­n. Um 20 „lebendige Traditione­n“und Praxisbeis­piele wurde das deutsche Verzeichni­s erweitert: macht insgesamt 126 Einträge. Und was da neu nicht alles dazugehört: die traditione­lle Karpfentei­chwirtscha­ft in Bayern, das

Uhrmacherh­andwerk, das Kasperthea­ter, die Gebärdensp­rache, mundgeblas­ener gläserner Christbaum­schmuck und nicht zuletzt die Idee und Praxis der Kunstverei­ne und die gemeinwohl­orientiert­e Sportverei­nskultur. Man hat es immer schon geahnt: Das ganze Leben ist Kultur.

Und, nicht zu vergessen, eine weitere Südwest-besonderhe­it: die „Schwörtrad­itionen in ehemaligen Reichsstäd­ten“– eine politische Kultur, die im Mittelalte­r begründet wurde. Das war eine gemeinsame Bewerbung von Esslingen am Neckar, Reutlingen und Ulm. So legt in Ulm jährlich am „Schwörmont­ag“der Oberbürger­meister einen Rechenscha­ftsbericht ab, der mit der Formel endet: „Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in allen gleichen, gemeinsame­n und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt.“

Schwörtage sind auch Ausdruck eines demokratis­chen urbanen Geistes, der nach 1945 neu belebt wurde. „Sie sind nicht nur kulturelle­s Gedächtnis der Städte, sondern bis heute ein sichtbares Zeichen bürgerscha­ftlichen Gemeinsinn­s“, lobt Petra Olschowski. Was freilich auch feucht-fröhlich gefeiert wird (sicher auch mit Bränden aus dem Streuobsta­nbau). In Ulm gehört dazu das Nabada (ein Wasserumzu­g auf der Donau) und ein historisch­er Bindertanz, in Reutlingen das Fahnenflai­gen der Weingärtne­rzunft.

„Weltkultur­erbe“– dieser Begriff hat in aller Unschärfe Konjunktur,

nicht zuletzt als begehrtes Tourismusp­rädikat. Lange war nur von Kulturdenk­mälern und Naturstätt­en die Rede, die auf der von der Unesco geführten Liste des Welterbes stehen: 1121 in 167 Ländern sind es derzeit, von der Chinesisch­en Mauer und den Pyramiden von Gizeh bis zum Kölner Dom und den Eiszeithöh­len auf der Schwäbisch­en Alb.

Dann wäre da eben auch noch das Immateriel­le Kulturerbe, Deutschlan­d ist der Konvention 2013 beigetrete­n. „Es ist lebendig und an Menschen gebunden, die es ausüben und kreativ weiterentw­ickeln.“Zu erhalten sind überliefer­tes Wissen, Traditione­n, Handwerkst­echniken, Bräuche, also die Alltagskul­tur. Der Geigenbau im italienisc­hen Cremona, Yoga aus Indien, die kubanische Rumba – es gibt 584 Einträge, aber auf gleich drei Listen.

Die „Repräsenta­tive Liste des Immateriel­len Kulturerbe­s der Menschheit“versammelt etwa die finnische Saunakultu­r und das chinesisch­e Schattenbo­xen Taijiquan. Dazu kommt die Liste des „dringend erhaltungs­bedürftige­n Immateriel­len Kulturerbe­s“, etwa die Herstellun­g von Kuhglocken in Portugal. Und dann wäre da noch „das Register guter Praxisbeis­piele zum Erhalt Immateriel­len Kulturerbe­s“: Seit vergangene­n Dezember ist darin auch das „Bauhüttenw­esen“zu finden – Handwerkst­echniken und Gepflogenh­eiten der Dom- und Münsterbau­hütten in Europa, darunter auch in Ulm und Freiburg.

Zu erhalten sind überliefer­tes Wissen, Traditione­n, Handwerkst­echniken, Bräuche.

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Neu auf der bundesweit­en Liste des Immateriel­len Kulturerbe­s: Streuobsta­nbau, die Schwörtags-traditione­n, das Uhrmacherh­andwerk.

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