Das ganze Leben
Auf der deutschen Liste stehen jetzt auch der Streuobstanbau und die Schwörtags-traditionen ehemaliger Reichsstädte wie Ulm.
Naturgemäß gehört der Streuobstanbau nicht zu den Kern-aufgaben einer baden-württembergischen Kunststaatssekretärin. Aber es geht hier um „das Selbstverständnis des deutschen Südwestens als Kulturland“. Weshalb Petra Olschowski, die ja kürzlich zudem ein Landtagsmandat für die Grünen (!) gewonnen hat, sich in dieser Sache meldet.
Mit mehr als 100 000 Hektar Streuobstwiesen verfüge Badenwürttemberg europaweit über die bedeutendsten Streuobstbestände. „Mit rund 5000 Tier- und Pflanzenarten zählen sie zu den artenreichsten Lebensräumen in Mitteleuropa und sind wertvolles Gen-reservoir für rund 3000 Obstsorten. Streuobstwiesen sind auch touristisch attraktive Kulturlandschaften“, sagt Olschowski, die sich aber durchaus nicht in die Ministerien für den ländlichen Raum oder die Umwelt verlaufen hat.
Most und Kaspertheater
Es geht vor allem um den Baumschnitt und Mostrezepte: Denn der „Streuobstanbau“steht jetzt auf der Liste des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland. Das hat kürzlich die Kultusministerkonferenz in Berlin beschlossen. Um 20 „lebendige Traditionen“und Praxisbeispiele wurde das deutsche Verzeichnis erweitert: macht insgesamt 126 Einträge. Und was da neu nicht alles dazugehört: die traditionelle Karpfenteichwirtschaft in Bayern, das
Uhrmacherhandwerk, das Kaspertheater, die Gebärdensprache, mundgeblasener gläserner Christbaumschmuck und nicht zuletzt die Idee und Praxis der Kunstvereine und die gemeinwohlorientierte Sportvereinskultur. Man hat es immer schon geahnt: Das ganze Leben ist Kultur.
Und, nicht zu vergessen, eine weitere Südwest-besonderheit: die „Schwörtraditionen in ehemaligen Reichsstädten“– eine politische Kultur, die im Mittelalter begründet wurde. Das war eine gemeinsame Bewerbung von Esslingen am Neckar, Reutlingen und Ulm. So legt in Ulm jährlich am „Schwörmontag“der Oberbürgermeister einen Rechenschaftsbericht ab, der mit der Formel endet: „Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in allen gleichen, gemeinsamen und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt.“
Schwörtage sind auch Ausdruck eines demokratischen urbanen Geistes, der nach 1945 neu belebt wurde. „Sie sind nicht nur kulturelles Gedächtnis der Städte, sondern bis heute ein sichtbares Zeichen bürgerschaftlichen Gemeinsinns“, lobt Petra Olschowski. Was freilich auch feucht-fröhlich gefeiert wird (sicher auch mit Bränden aus dem Streuobstanbau). In Ulm gehört dazu das Nabada (ein Wasserumzug auf der Donau) und ein historischer Bindertanz, in Reutlingen das Fahnenflaigen der Weingärtnerzunft.
„Weltkulturerbe“– dieser Begriff hat in aller Unschärfe Konjunktur,
nicht zuletzt als begehrtes Tourismusprädikat. Lange war nur von Kulturdenkmälern und Naturstätten die Rede, die auf der von der Unesco geführten Liste des Welterbes stehen: 1121 in 167 Ländern sind es derzeit, von der Chinesischen Mauer und den Pyramiden von Gizeh bis zum Kölner Dom und den Eiszeithöhlen auf der Schwäbischen Alb.
Dann wäre da eben auch noch das Immaterielle Kulturerbe, Deutschland ist der Konvention 2013 beigetreten. „Es ist lebendig und an Menschen gebunden, die es ausüben und kreativ weiterentwickeln.“Zu erhalten sind überliefertes Wissen, Traditionen, Handwerkstechniken, Bräuche, also die Alltagskultur. Der Geigenbau im italienischen Cremona, Yoga aus Indien, die kubanische Rumba – es gibt 584 Einträge, aber auf gleich drei Listen.
Die „Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit“versammelt etwa die finnische Saunakultur und das chinesische Schattenboxen Taijiquan. Dazu kommt die Liste des „dringend erhaltungsbedürftigen Immateriellen Kulturerbes“, etwa die Herstellung von Kuhglocken in Portugal. Und dann wäre da noch „das Register guter Praxisbeispiele zum Erhalt Immateriellen Kulturerbes“: Seit vergangenen Dezember ist darin auch das „Bauhüttenwesen“zu finden – Handwerkstechniken und Gepflogenheiten der Dom- und Münsterbauhütten in Europa, darunter auch in Ulm und Freiburg.
Zu erhalten sind überliefertes Wissen, Traditionen, Handwerkstechniken, Bräuche.