Die Macht der Poesie
Leider nur politisch korrekt, aber keine literarische Wucht: Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“ist ins Deutsche übersetzt worden.
Also im Berliner Reichstag könnte das nicht passieren. Eine Bundeskanzlerin oder ein Bundeskanzler wird vereidigt, und eine junge Dichterin trägt ein flammendes Gedicht ans Volk vor? Profanes Deutschland. Na ja, vielleicht kommt im Herbst mit Robert Habeck sogar ein Schriftsteller ins Amt – aber das ist ein anderes Thema. In den USA jedenfalls hat das „Inaugurationsgedicht“große Tradition, und bei der Amtseinführung von Präsident Joe Biden am 20. Januar trat die 22-jährige Amanda Gorman vor dem Kapitol auf – und wurde eine Sensation.
Unvergesslich. Der Auftritt dauerte keine sechs Minuten. Aber diese junge, strahlend schöne Frau im knallgelben Mantel, mit einem roten Band ums Haar, dieses „kleine dünne Schwarze Mädchen, Nachfahrin von Sklavinnen, Kind einer alleinerziehenden Mutter“, riss mit geradezu gerappten, mit einer gestenreichen Performance nicht nur die Menschen der zerrissenen amerikanischen Nation mit sich. Die Macht der Poesie – einer Dichterin mit mittlerweile 3,7 Millionen Followern auf Instagram und 1,5
Die Worte waren Balsam für unsere Seelen.
Millionen bei Twitter: Von einem neuen Morgen sprach sie, von Einigkeit und Diversität, von Aufbruch, Hoffnung, gemeinsamen Zielen. Dieses Pathos, dieses Sendungsbewusstsein einer Frau, die davon träumt, Präsidentin der Vereinigten Staaten zu werden, im Jahre 2036! „The Hill We Climb“heißt Gormans Gedicht, das beziehungsreich gespeist ist mit biblischen Bezügen und auch mit Assoziationen an Reden Barack Obamas und Martin Luther Kings. Das ist ihre Liga.
Oprah Winfrey, die legendäre schwarze Talkerin (der sich zuletzt auch die ex-royalen Meghan und Harry offenbarten), schreibt von Amanda Gorman geradezu als von einem weiblichen Messias: „Auf sie haben wir gewartet.“Und: „Die Worte, die uns umfingen, waren eine Wohltat, waren Balsam für unsere Seelen.“So passt es ganz gut, dass jetzt, kurz vor Ostern, an diesem Dienstag, dieses Gedicht auch auf Deutsch erscheint: in einer zweisprachigen Ausgabe von Hoffmann und Campe, mit einem nicht weniger lyrischen Vorwort Winfreys.
Amanda Gorman hat vor dem Kapitol in Washington ja auch nicht nur den Präsidenten und seine Ehefrau, Dr. Biden, sowie Madam Vice President und Mr. Emhoff (den Ehemann von Kamala Harris) angesprochen. Ihr so politischer Vortrag, der dazu aufruft, nach vorne zu schauen, keine Niederlage zu akzeptieren, sich die Hände zu reichen, Gräben zuzuschütten, richtete sich auch an: „Americans, and the World“. Ja, und schon wird’s problematisch: Wie lässt sich das ins Deutsche übertragen, in eine Sprache, die nicht das Volk, ob männlich, weiblich, nicht-binär oder sonst wie, mit einem Wort zusammenfassen kann?
Bei Hoffmann und Campe kommt das Gendersternchen zum Einsatz: „Bürger*innen Amerikas und der Welt“. Das haben gleich drei Übersetzerinnen entschieden. Denn die Übertragung ist ein Politikum. Abgesehen davon wirft schon der Titel Fragen auf, denn das „Wir“ist im Deutschen abhanden gekommen: „Den Hügel hinauf “heißt es für „The Hill We Climb“– nicht „Der Hügel, den wir erklimmen“oder „Den Hügel besteigen wir“.
Ein vermintes Gelände. Denn es hat sich eine internationale Übersetzungsdebatte entfacht. Sie begann, als in den Niederlanden der Verlag Meulenhoff Marieke Lucas Rijneveld (preisgekrönt, non-binär, aber weiß) für die Übersetzung abzog, weil die schwarze Journalistin Janice Deul in der Zeitung „De Volkskrant“diese Wahl als nicht angemessen kritisierte. Willkommen in der Welt der Identitätspolitik und der digitalen Shitstorm-panik.
Ein deutsches Trio
Dürfen Weiße die Texte von Schwarzen übersetzen? Muss jetzt zum Beispiel dtv seine hochgelobte Reihe mit Neuübersetzungen der Bücher des großen schwarzen, schwulen Schriftstellers James Baldwin durch Miriam Mandelkow (weiß, Frau) einstampfen? Das muss der Verlag gewiss nicht. Die Übersetzerzunft, von der nie viel die Rede ist, die dafür aber meist schlecht bezahlt wird, steht plötzlich im Rampenlicht. Wieviel Originalautorenpersönlichkeit und -biografie ist nötig für das authentische Übersetzen eines Textes? Wer dürfte sich dann beispielsweise Shakespeare nähern? Mal die Polemik abgezogen: Es ist gut, wenn jetzt über Diversität im Literaturbetrieb diskutiert wird. Aber zählt am Ende nicht das Ergebnis der Übersetzung?
Hoffmann und Campe versuchte es jedenfalls mit einem Frauen-trio: Uda Strätling (eine renommierte Übersetzerin, die in den USA, Osteuropa und Afrika aufwuchs), Hadija Haruna-oelker (Politikwissenschaftlerin, aktiv in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland) und Kübra Gümüşay (auch Politikwissenschaftlerin, Autorin von „Sprache und Sein“, ausgezeichnet mit dem Clara-zetkin-frauenpreis). Damit liest sich Gormans poetische Rede politisch sehr korrekt; und das Büchlein enthält dazu auch zahlreiche Anmerkungen der Übersetzerinnen.
Aber die sprachliche, die rhythmische Wucht von „The Hill We Climb“fängt diese Arbeit nicht im Geringsten ein. Es ist eher eine Transkription aus dem amerikanischen Englisch für eine zweisprachige Ausgabe. Eine Verständnishilfe für Leserinnen und Leser. Das ist nützlich. Aber es ist schade für die Literatur, wenn Übersetzende sich nicht mehr poetisch ans Original trauen.