War Mordlust das Motiv?
Im Fall Der psychiatrische Gutachter vermutet vor Gericht, dass der Täter Brigitta J. „gottgleiche“Macht spüren wollte.
Die Frau, die am 15. Juli 1995 in der Tübinger Rechtsmedizin auf dem Obduktionstisch liegt, ist zierlich: 51 Kilo schwer, 1,67 Meter groß. Das notieren sich der damalige Institutsleiter Professor Heinz-dieter Wehner und seine Kollegin Dr. Maria-christine Schieffer. Brigitta J. trägt ein blutgetränktes dunkelblaues T-shirt, eine Jeans, am rechten Fuß eine Sandalette. Am Oberkörper kleben Elektroden – stumme Zeugen der Wiederbelebungsversuche Stunden zuvor.
Dass diese zum Scheitern verurteilt waren, macht Schieffer im Zeugenstand am Stuttgarter Landgericht deutlich. Bei den Verletzungen, die die Künstlerin erlitten habe, habe „keine Möglichkeit einer Rettung“bestanden. Diese überlebe man nur Minuten, sagt die Rechtsmedizinerin, 73, im Ruhestand.
Es ist der späte Abend des 14. Juli 1995, als die damals 35-jährige Stuttgarterin Brigitta J. laut der Anklage in Sindelfingen auf dem Heimweg von der Arbeit von dem Ex-topmanager Hartmut M. aus dem Nichts heraus attackiert und ermordet wird. 23 Stiche zählen die Rechtsmediziner später, wobei schon der zweite Stich das Schicksal der jungen Frau besiegelt: Er durchschlägt das Brustbein und trifft den rechten Herzbeutel. Das Todesurteil.
25 Jahre dauert es, bis die Polizei den mutmaßlichen Angreifer festnehmen kann – anhand aufbereiteter Dna-spuren wird der 70-jährige M. Anfang 2020 verhaftet. Bis 2016 hatte er im Gefängnis gesessen, unter anderem weil er der Obersontheimer Ladenbetreiberin
Magdalene H. 2001 die Kehle durchgeschnitten hatte.
Warum M. womöglich zwei Frauen getötet hat, das sollte der psychiatrische Gutachter Peter Winckler näher untersuchen. Eine psychische Erkrankung schließt der Tübinger Forensiker ganz klar aus. Vielmehr schreibt er dem Angeklagten eine „narzisstische Akzentuierung“zu. Tobte aber schon 1995 in M. eine sadistisch-sexuelle Neigung? Das zumindest vermutet die Nebenklage, die den 70-Jährigen zudem als Serientäter betrachtet, der zuerst Brigitta J. ermordete und sechs Jahre später Magdalene H. regelrecht „geschächtet“habe.
Zwei voneinander unabhängige Taten wie die vorliegenden könne man als Beginn einer Serie sehen, bestätigt Winckler auf Nachfrage des Nebenklagevertreters. Die Sadismus-these will der Gutachter aber nicht mitgehen, schlicht, weil er über die sexuellen Präferenzen des Angeklagten zu wenig wisse. Rund 300 Pornobilder aus dem Besitz des Angeklagten, auf denen Frauen gefesselt und gequält werden, ergäben zwar Hinweise auf „ungewöhnliche sexuelle Präferenzen“. Unklar sei aber, welche Konsequenzen das auf M.s reales Sexualleben gehabt habe.
Aussagen zum Motiv blieben letztlich Spekulation, sagt der Gutachter. Schaue er sich die Todesumstände der beiden Frauen an, dränge sich für ihn, wenn man denn von M.s Schuld ausgehe, Mordlust als primäres Motiv auf. In beiden Fällen habe es sich um Zufallsopfer gehandelt. In beiden Fällen sei es zumindest nach der Spurenlage nicht zu sexuellen Handlungen gekommen. Winckler: „Es könnte sich also um die Tötung als solche gehandelt haben. Um das Erleben grenzenloser, entfesselter, gottgleicher Macht.“