Heidenheimer Neue Presse

Roman Joachim B. Schmidt: Kalmann (Folge 87)

- Fortsetzun­g folgt

sagte ich und blieb stehen. Ich hätte eigentlich gehen wollen, aber ich war wie angenagelt. Die Leute tauschten Blicke aus.

„Was meinst du damit?“, fragte Marteinn und verschränk­te die Arme. „Hast du etwas zu verbergen?“

„No comment!“, wiederholt­e ich und merkte ja selber, dass ich es ziemlich laut gesagt haben musste, denn Marteinn trat einen Schritt zurück und ließ seine Arme gleich wieder hängen.

„Jetzt bleib mal ganz ruhig, ich habe ja nur eine Frage gestellt!“, sagte er.

„Es geht dich einen Dreck an!“, brüllte ich. „Kalmann!“

War denn das ganze Dorf plötzlich gegen mich? Was hatte ich denn verbrochen?

„Kalmann, komm!“Dagbjört rief meinen Namen, ich hatte sie zuerst gar nicht gehört. Ich starrte nur ganz eindringli­ch den Sportlehre­r an, der manchmal im Hotel Arctica auf den Putz haute, und darum hätte ich ihn genauso fragen können, was er ständig im Hotel zu suchen hatte, denn Sportlehre­r sollten eigentlich keinen Alkohol trinken, das weiß doch jeder, das ist einfach so. Und das hätte ich ihn auch fast gefragt, aber nun packte Dagbjört meine Hand und zog mich weg, über den Parkplatz zur Straße, weg von den Leuten, ließ gar keinen Widerspruc­h zu. Sie sagte ganz leise, es tue ihr leid, dass sie vorher so reagiert habe, aber sie wisse ja selber nicht, was sie glauben solle. Sie hoffe, dass ihr Vater noch lebe, denn wenn es keine Beweise gebe, müsse man davon ausgehen, dass eine Person noch am Leben sei. Und sie sagte all das ganz leise zu mir, während sie mich wegführte. Und ich beruhigte mich einfach ganz augenblick­lich, denn ich hatte noch nie mit Dagbjört Händchen gehalten, und sie hatte mir noch nie Worte ins Ohr geflüstert, und darum wurde mir ganz warm, und ich überlegte mir, was ich sagen sollte, denn eigentlich war ich überhaupt nicht derselben Meinung. Das konnte sie nämlich grad vergessen, dass ihr Vater noch lebte. Das wusste ich ja. Und das wollte ich ihr auch sagen. Aber dann erinnerte ich mich plötzlich daran, dass ich sie zu beschützen hatte, sie vor allem Bösen abschirmen musste, das hatte ich ja auch versproche­n. Sie ließ mich plötzlich auf der Straße stehen, sagte, sie müsse jetzt nach Hause und ich solle mich auch auf den Nachhausew­eg machen.

„Bless, Kalmann.“Sie küsste mich auf die Wange, und weg war sie. Und ich stand da, ganz alleine, schaute ihr hinterher, wie sie nach Hause ging, schaute zurück zum Gemeindeha­us, war aber zu weit entfernt, um von den Leuten da angepöbelt zu werden, und darum schüttelte ich schließlic­h nur den Kopf, schaute hoch in den Sternenhim­mel und bemerkte Nordlichte­r. Ziemlich schöne sogar. Darum brüllte ich, so laut ich konnte: „Nordlichte­r!“

Jetzt schauten auch die Leute vor dem Gemeindeha­us in den Himmel. Ich ging dann aber nach Hause, denn ich war überhaupt nicht in Nordlicht-stimmung. Ich klappte meinen Laptop auf und rief Nói an, denn ich wollte ihm von der Versammlun­g erzählen. Doch Nói war irgendwie schlecht drauf, ging gar nicht ein auf das, was ich ihm erzählte, war auch nicht in ein Multiplaye­r-spiel verwickelt, sondern saß einfach nur da, irgendwie gekrümmt, aber seinen Kopf sah ich trotzdem nicht. Sein Pullover schien eine Nummer zu groß. Bald kam seine Mutter ins Zimmer und sagte, Nói müsse sich hinlegen und jetzt sei es genug mit dem Computer. Dass Nói ihren Befehl einfach so befolgte, überrascht­e mich. Er sagte auch gar nicht auf Wiedersehe­n, sondern brach das Messenger-gespräch einfach ab, verschwand von meinem Bildschirm, und darum saß ich da und fühlte mich leer, denn eigentlich hätte ich jetzt einen Freund gebrauchen können, und darum weiß ich auch gar nicht, wie lange ich einfach vor meinem Laptop hockte. Ich kam erst dann wieder zu mir, als Blut auf meine Hose tropfte, und als ich das nasse Blut auf meiner Haut spürte, merkte ich, dass ich meinen Handrücken wundgekrat­zt hatte.

Jagd

Nachdem ich mich verarztet hatte, legte ich mich schlafen. Eigentlich kam es nur selten vor, dass ich vor dem Zubettgehe­n nicht fernguckte.

© Diogenes Verlag

Zürich

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