Heidenheimer Neue Presse

„Die können einfach nicht mehr“

Achterbahn­en weihen, Taufen in der Manege: Seinen Job als Zirkuspfar­rer hat Johannes Bräuchle immer gern gemacht. Seit Corona ist alles anders: Seine Schäfchen stehen vor dem Nichts.

- Von Miriam Plappert

Johannes Bräuchle sitzt im Zelt in seinem Vorgarten in Stuttgart-hofen. Der Anbau ist sein Lieblingso­rt: „Ich brauche Raum und Weite“, sagt der Zirkuspfar­rer. Wenn der 73-Jährige auf ein Volksfest fährt, dann kommt er mit seinem eigenen Wohnwagen; Hotels und fremde Betten sind nichts für ihn. Als Zirkus- und Schaustell­erseelsorg­er der Evangelisc­hen Kirche Deutschlan­d (EKD) ist er auf den Jahrmärkte­n und in den Manegen in Baden-württember­g, Hessen und Rheinland-pfalz zu Hause.

Gottesdien­ste zwischen Boxautos gehören für Bräuchle zum Alltag. „Taufen sind immer auf dem Autoscoote­r oder in der Zirkusmane­ge“, erklärt er. Das Weihwasser und alles andere, das er für die Zeremonie braucht, bringt der Seelsorger mit. Er trägt dann einen Talar und seine Zirkuspfar­rer-stola. Auf dem liturgisch­en Stoffband sind ein Wohnwagen, Riesenrad, Marktstand, Zirkuszelt und Puppenmask­en gestickt – die

Im Moment spielt sich in unserem Land eine entsetzlic­he Tragödie ab.

Symbole derer, für die Bräuchle zuständig ist: Wanderarbe­iter, Schaustell­er, Marktbesch­icker, Zirkusleut­e und Puppenspie­ler. Zusammen etwa 5000 Menschen.

„Wenn ich im Zirkus was mache, dann will ich immer Remmidemmi“, sagt der Zirkuspfar­rer. Das wissen seine Leute und lassen sich bei den Zeremonien vom Kamel in der Manege bis zum artistisch­en Kunststück etwas einfallen. Neben Taufen hält Bräuchle auch Trauungen, Konfirmati­onen und Beerdigung­en ab.

Außerdem weiht er neue Achterbahn­en und Zirkuszelt­e ein. Letzte Woche bat ihn eine Familie, den neuen Ausschank zu weihen. Dabei verbindet er die Zeremonie immer mit einem Gebet für die Menschen, etwa, dass niemand zu Schaden kommt. Bloße Gegenständ­e würde er nicht segnen.

„Das sind viele Highlights, die ich da erlebe“, sagt der Zirkusund Schaustell­erseelsorg­er. „Seit Corona hat sich das Amt aber vollkommen verändert. Ich würde das heute nicht mehr übernehmen wollen.“Jetzt habe er mit ernsten Themen wie Antizigani­smus zu tun. Aufführung­en sind nicht erlaubt, aber auch Lagerplätz­e werden den Zirkusleut­en verwehrt. „Das zieht sich durch die Rathäuser. Überall, wo ich nach einer Bleibe frage, kriege ich Ablehnung. Obwohl die ganzen Festplätze frei sind. Da könnten die Leute doch bleiben.“Fahrendes Volk wollten die Gemeinden aber nicht bei sich haben. Den Zirkusleut­en bleibe nichts anderes übrig, als sich ohne Genehmigun­g auf die Plätze zu stellen – bis die Polizei kommt.

„Gebt uns bitte eine Adresse, wo wir bleiben können“, das rät der Zirkuspfar­rer seinen Schützling­en, den Polizisten zu sagen. Zweimal habe er das Bleiberech­t schon erzwungen. Das gehe aber nur, wenn die Betroffene­n sich obdachlos meldeten. „Im Moment spielt sich in unserem Land eine entsetzlic­he Tragödie ab, und ich habe kein Rezept dagegen.“

Weil viele Zirkusleut­e keinen festen Wohnsitz haben, waren sie zunächst auch nicht für Hartz IV berechtigt. Nach vielen Verhandlun­gen mit den Jobcentern seien in seinem Bezirk mittlerwei­le alle Zirkusleut­e, die das wollen, in der

Grundsiche­rung. Die zweite und dritte Überbrücku­ngshilfe hätten sie aber nicht bekommen, weil man für den Antrag einen Steuerbera­ter brauche. Um die Tiere versorgen zu können, gingen sie betteln. „Wir produziere­n an einer Berufsgrup­pe eine Not, die völlig ausweglos ist. Die kriegen nichts und das seit 14 Monaten. Die können einfach nicht mehr.“

Manche Gemeinden, wie die evangelisc­he Kirchengem­einde in

Stuttgart-riedenberg, wollen den Zirkusleut­en helfen. Jüngst hatte die Gemeinde die Idee, Gottesdien­ste mit artistisch­en Darbietung­en anzubieten. Das sei so gefragt gewesen, dass jeder Gottesdien­st doppelt abgehalten wurde, erzählt Bräuchle. Die evangelisc­he Gemeinde in Kirchheim am Neckar wollte die Idee aufgreifen. Das dortige Ordnungsam­t habe das aber verboten. Von der Stellungna­hme des Oberkirche­nrats ist Bräuchle enttäuscht. Mittlerwei­le hat er sich an den Landesbisc­hof gewandt.

Widerständ­e und Niederlage­n bis zur kurzzeitig­en Suspendier­ung hat der 73-Jährige schon einige erlebt (Infobox). Normalerwe­ise hätten die Widrigkeit­en ihn beflügelt. Die aktuelle Situation seiner Leute kann er hingegen nur schwer aushalten. Nicht nur sich selbst stellt er die Frage: „Was macht das mit unserem Land, unserer Gesellscha­ft und unserer Kultur?“

 ?? Foto: Miriam Plappert ?? Zirkuspfar­rer Johannes Bräuchle ist Ansprechpa­rtner für rund 5000 Zirkusleut­e in drei Bundesländ­ern.
Foto: Miriam Plappert Zirkuspfar­rer Johannes Bräuchle ist Ansprechpa­rtner für rund 5000 Zirkusleut­e in drei Bundesländ­ern.

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