Gemeinsam ins Neuland
Mit der Plattform „Theater-stream“erreichen 13 Jugendtheater im Land Schulen und Kitas trotz Lockdown – und setzen dabei auf interaktive Formate.
In die Luft gehen. Geborgenheit. Staunen. Solidarität. Überforderung. Nach und nach füllt sich das „Neuland“mit Gefühlen. Das Neuland ist ein weißer, würfelförmiger Raum mit einem Kleiderständer. Darin steht Schauspielerin Nadja Rui. Sie schreibt die Gefühle an die Wand, die ihr die Zuschauer in der Videokonferenz mitteilen. Und sie übersetzt die Emotionen in Schauspiel: „Magst du mir mal zeigen, wie du staunst?“Die digitale Produktion „Neuland – Under Construction“des Jungen Theaters Heidelberg kennt keine vierte Wand.
„Wir wollen einen Raum schaffen, zu dem sich alle zugehörig fühlen“, erklären die Darsteller. „Wenn wir das schaffen, erschaffen wir gemeinsam ein Kunstwerk.“Leon Wieferich moderiert und ruft die Zuschauer mit Namen auf: „Welches Gefühl würdet ihr gerne im Neuland platzieren?“Im dunklen Zuschauersaal verschwinden, passiv konsumieren: keine Chance. Es ist ein bisschen wie in der Schule, aber für Schüler ist „Neuland“auch konzipiert worden.
Das Zoom-theaterstück ist Teil des Angebots auf der Plattform theater-stream.de. Hinter der Webseite steht ein Zusammenschluss von 13 Jugendtheatern aus
Baden-württemberg. Seit Beginn der Pandemie ist es für die Theatermacher fast unmöglich, Schulen und Kitas auf analogen Weg zu erreichen. Ausflüge sind ausgesetzt, die Schulen kämpfen mit dem Hin und Her zwischen Präsenzund Fernunterricht. Sven Wisser, Intendant der Jungen Ulmer Bühne und Initiator des Projekts, rechnet damit, Schulklassen erst wieder 2022 zu empfangen.
„Theater-stream“soll den Theaterbesuch ersetzen – und erforschen, wie Schauspieler und Zuschauer interagieren können. „Wir stellen fest: Passiv dabei zu sein, wird langweilig“, sagt Natascha Kalmbach, Leiterin des Jungen Theaters Heidelberg und Sprecherin des Arbeitskreises Junges Theater Baden-württemberg. Bei „Neuland“entwickeln Zuschauer und Schauspieler gemeinsam Figuren, Kostüme, Text, Bühnenbild und Ton – in zwei Schulstunden entsteht eine Performance.
Schon vor Corona standen die Jugendtheater vor der Frage, wie sie den Sehgewohnheiten ihres jungen Publikums entgegenkommen können. Corona habe den Trend zu mehr Digitalität und Interaktion nur verstärkt, sagt Kalmbach. Das Projekt der Jugendbühnen ernte viel Lob, aber auch die Kritik, man gebe das klassische Theater auf. „Manche lehnen digitale Formate aus Überzeugung ab.“Für Kalmbach ergänzt sich beides. Und sie sagt: Die digitalen Produktionen bauten Barrieren ab, beispielsweise für Schüler mit körperlichen Behinderungen.
Außer „Neuland“gibt es auf der Streamingplattform ein weiteres Zoom-theaterstück: „Selinas Mondfahrt“für Kinder ab sechs Jahren der Jungen Ulmer Bühne. Bei den 26 verfügbaren Produktionen handelt es sich überwiegend um Theaterfilme, die mit unterschiedlichen technischen Möglichkeiten aufgezeichnet wurden. Das Spektrum reicht vom klassischen Lehrplanstoff wie „Faust“und „Der goldne Topf“bis zu modernen Stücken mit aktuellen Fragestellungen wie Juli Zehs Gesundheits-dystopie „Corpus Delicti“oder „Das Heimatkleid“über rechtspopulistische Diskurse. Meist bieten die Theater den Schulen ein digitales Nachgespräch an. Bei „Alle außer das Einhorn“des Theaters der Stadt Aalen wird zum Stück ein Chatroom eröffnet.
Wie wird „Theater-stream“in diesen Zeiten angenommen? „Natürlich rennen uns die Schulen nicht die Türen ein“, gibt Kalmbach zu. Das Angebot sei noch eher unbekannt, den Lehrern fehle die Zeit oder sie seien skeptisch gegenüber dem neuen Format. Die Rückmeldungen nach den Vorstellungen seien aber positiv, sagt die Theaterleiterin.
Daniela Deseyve-nohl unterrichtet an der Waldparkschule Heidelberg und hat mit Schülern der Klassen 6 bis 8 an „Neuland“teilgenommen. „Wir waren unheimlich dankbar für die Abwechslung“sagt die Deutschlehrerin.
Sie wirbt bei ihren Kollegen für die Plattform und findet: Lehrer sollten sich trotz der Herausforderungen durch die Pandemie Zeit für die Angebote nehmen. Auch wenn Deseyve-nohl „Neuland“und die Leistung der Darsteller lobt: Einen analogen Theaterbesuch würde sie jederzeit vorziehen, sagt sie. Sobald möglich, sollen ihre Schüler mindestens einmal im Jahr ein Stück live im Theater sehen.
Der weiße Würfel füllt sich
Den Schlussakt bei „Neuland“bildet stets die Aufführung der gemeinsamen Performance. Der zuvor kahle Würfel ist lebendig geworden. Schauspielerin Nadja Rui steht vor einer Videoleinwand, auf der aus Muscheln und Sand eine Art Küste entsteht. Im Wasser blubbert eine Brausetablette. Wind heult. Rui wechselt fließend von einer erdachten Figur in die andere, schwankt zwischen Begeisterung und Unsicherheit angesichts der Welt, die um sie herum entsteht. Zum Schluss tönt Applaus aus den Lautsprechern und aus den Mikrofonen der Zuschauer. „Danke für dieses Neuland“, jubelt ein Schauspieler.