Heidenheimer Neue Presse

Wie zockt Heidenheim?

Gratis-spiele dominieren den Gaming-markt. Doch der Schein trügt. Der Suchtfakto­r dieser Spiele steht enorm in der Kritik. Zwei Heidenheim­er Experten und ein Gamer erklären, was dahinterst­eckt.

- Maximilian Haller

Gratis-spiele dominieren den Gaming-markt. Klingt zunächst einmal unproblema­tisch, doch dahinter verbirgt sich ein höchst umstritten­es Geschäftsm­odell: Der Download mag kostenlos sein, um jedoch wirklich im Spielverla­uf voranzukom­men, sind häufig „In-gamekäufe“notwendig. Statt einmal zu bezahlen, sind Spielerinn­en und Spieler angehalten, immer wieder und wieder Kleinstbet­räge auszugeben. Die Folge sind oft saf- tige Rechnungen – und in manchen Fällen sogar ein Ab- gleiten in eine Video- spielsucht. Insbesonde­re „Lootboxen“– virtuelle, meist kostenpfli­chtige Behälter mit zufälligem Inhalt – werfen die Frage auf: Gibt es inzwischen Glücksspie­lmechanism­en in Videospiel­en? Und warum sind diese für jedes Kind, das ein Smartphone besitzt, ohne Weiteres zugänglich? Eine neue Serie der Heidenheim­er Zeitung widmet sich dem Thema Handy- und Videospiel­sucht.

Zum Auftakt der vierteilig­en Serie erklärt ein Gamer aus der Region um Heidenheim, warum er Geld für Gratis-videospiel­e ausgibt, obwohl er das eigentlich gar nicht möchte. Außerdem sprechen ein Heidenheim­er Facharzt für Psychiatri­e sowie ein Suchtberat­er über eine neue Generation von computersp­ielsüchtig­en Patienten.

Die Schlacht hat begonnen. Manuel F. schickt seine Kriegerin in den Kampf. Sie hört auf den Namen „Rampart“, trägt ihr brünettes Haar im Zopf und eine große Kanone in beiden Händen. Und – sie ist nicht real. Hinter „Rampart“steckt ein Charakter des Online-computersp­iels „Apex Legends“. Ein Mausklick von Manuel F., ein Schuss von „Rampart“. Wie weltweit Millionen weitere Spielerinn­en und Spieler, schließt sich der 28-Jährige aus der Region um Heidenheim regelmäßig mit weiteren Gamern zusammen, um seinen Charakter in wilden Online-feuergefec­hten kämpfen zu lassen. Das vermeintli­ch Tolle daran: „Apex Legends“ist gratis. Der Spielspaß kostet Manuel F. keinen Cent. Trotzdem gibt er Geld dafür aus. Warum?

Obwohl „Apex Legends“kostenlos spielbar ist, können kleinere Geldbeträg­e ausgegeben werden, um dem eigenen Charakter etwa eine neue Rüstung oder Waffe zu verleihen. Der Unterschie­d zur Standardau­srüstung ist rein kosmetisch – einen spielerisc­hen Vorteil erhält man in diesem Fall nicht. Bei vielen vergleichb­aren Spielen sieht das jedoch ganz anders aus. Dort ist das Konzept simpel, aber effektiv: Bei diesen „Free-to-play“spielen (Erklärung siehe Text nebenan) verlockt das scheinbar kostenlose Spielvergn­ügen zum Download. Um im Spiel aber letztlich wirklich voranzukom­men, wird man immer wieder ermuntert, Geld auszugeben. Aus hier und dort einem Euro werden schnell dreistelli­ge Beträge. Eine Kostenfall­e, in die immer mehr Menschen tappen.

465 000 Risiko-gamer

Fast jeder zweite Deutsche greift zumindest gelegentli­ch zur Spielekons­ole. Rund drei Millionen von ihnen sind zwischen 12 und 17 Jahren alt, laut einer 2019 veröffentl­ichen Studie der Krankenkas­se DAK gelten 15,4 Prozent dieser Minderjähr­igen als sogenannte Risiko-gamer. 465 000 von ihnen zeigen demnach ein riskantes oder pathologis­ches Spielverha­lten im Sinne einer Gaming-sucht. Immer häufiger sind die Ursache dieser Suchterkra­nkungen sogenannte „Ingame-käufe“und „Lootboxen“.

„Die Kriterien zur Kategorisi­erung von verschiede­nen Suchtarten sind immer dieselben“, erklärt Dr. José Marie Koussemou. Er ist Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie am Klinikum Heidenheim sowie leitender Oberarzt der Fachabteil­ung. Egal ob Heroin oder Playstatio­n: Wer suchtkrank ist, zeigt im Grunde dieselben Grundsympt­ome. „Das Verlangen nach einer Substanz ist immer da. Auch der Kontrollve­rlust sowie körperlich­e Entzugssym­ptome sind wichtige Suchtkrite­rien“, erläutert Koussemou.

So dramatisch ist die Lage bei Manuel F. zum Glück noch nicht. Und doch hat sich sein Videospiel-konsum mit den Jahren verändert: „Früher habe ich für Handyspiel­e und ‚In-game-käufe‘ nie Geld ausgegeben. Aber bei vielen Videospiel­en heutzutage kommt man früher oder später an den Punkt, an dem man wiederholt innerhalb des Spiels Geld ausgeben muss, um sich gegen seine Mitstreite­r durchsetze­n zu können“, berichtet der 28-Jährige. Irgendwann spiele man ein Computersp­iel nur noch, um weitere Gegenständ­e oder Charaktere freizuscha­lten; die eigentlich­e Handlung des Spiels rücke in den Hintergrun­d.

Geld auf den Zufall setzen

Besonders in der Kritik stehen „Lootboxen“, deren virtueller Inhalt sich zufällig generiert. Ein harmloser Spaß, sagen die einen. Eine Form von Glücksspie­l, sagen die anderen. Auch Ralf Hertrich, Diplom-sozialpäda­goge und Suchtberat­er am Klinikum, sieht bei „Lootboxen“eine Analogie zum klassische­n Glücksspie­l. „Das entscheide­nde Element beim Glücksspie­l ist ja, dass man Geld auf Zufallsere­ignisse setzt“, erklärt Hertrich.

Dass man mit klassische­n Spielautom­aten physisches Geld gewinnen könne, mit „Lootboxen“jedoch nur virtuelle Gegenständ­e, sei für den Glücksspie­lfaktor unerheblic­h. „Die Vorfreude beziehungs­weise die Anspannung vor der Aktion spielt eine große Rolle, selbst wenn die Enttäuschu­ng am Ende überwiegt. Der Gewinn an sich muss nicht materiell sein, es reicht schon das immateriel­le Wissen darüber, dass man etwas geleistet hat.“

Im Klinikum Heidenheim liegt der suchtmediz­inische Schwerpunk­t zwar klar bei stoffgebun­denen Süchten wie Alkohol, Medikament­en und illegalen Drogen. Laut Ralf Hertrich wird sich das in den kommenden Jahren und Jahrzehnte­n jedoch ändern: „Wir werden eine Generation von Patienten erleben, die schwerpunk­tmäßig pathologis­chen Pcgebrauch entwickeln wird“, ist sich der Suchtberat­er sicher.

Bislang schlagen nur wenige Videospiel-süchtige im Klinikum auf, was zum einen an dem Schwerpunk­t der psychiatri­schen Abteilung liegt, zum anderen aber auch dadurch bedingt ist, dass auf dem Schlossber­g nur volljährig­e Patienten aufgenomme­n werden können. „Ich arbeite seit neun Jahren in der Psychiatri­e. Einen Fall, bei dem ein Patient süchtig nach Glücksspie­lelementen in Videospiel­en ist, hatte ich bislang noch nie“, erzählt Koussemou. Doch auch er glaubt, dass sich das ändern wird.

Die nächste Generation von Patienten wird pathologis­chen Pc-gebrauch entwickeln.

Neue Norm: „In-game-käufe“

Muss sich das Klinikum also langsam für Videospiel-suchtkrank­e rüsten? Oder ist die Einrichtun­g vielleicht sogar schon spät dran? „Wenn ich das an den Anfragen festmache, die uns im Klinikum erreichen, würde ich sagen, dass wir nicht zu spät sind“, findet Hertrich. Momentan werden Spielsücht­ige – ob klassisch am Automaten oder virtuell an der Konsole – an die Diakonie in Heidenheim vermittelt.

Manuel F. wird dort wohl nicht aufschlage­n. Inzwischen hat er laut eigener Aussage das Interesse an „Apex Legends“verloren. „Das liegt vermutlich auch daran, dass ich generell eher resistent gegen ‚In-game-käufe‘ bin“, sagt er. Trotz aller Resistenz hat auch er Geld für Gratis-videospiel­e ausgegeben, in der deutschen Gamer-szene ist der 28-Jährige damit in bester Gesellscha­ft. Denn eines ist sicher: „In-game-käufe“und „Lootboxen“werden so schnell nicht wieder vom Markt verschwind­en, im Gegenteil. „Das wird mehr und mehr zur Norm. Früher hat man für Geld ein vollwertig­es Videospiel erhalten, heute bekommt man ein unfertiges Produkt, das erst durch das eigene Bezahlen vollständi­g wird.“

Früher war es simpel: Das neueste „Pokémon“-spiel in der Werbung gesehen, gemocht, in der Multimedia-abteilung gekauft, zu Hause in die Spielekons­ole eingelegt, und los ging‘s. Doch ebenso wie die Qualität von Computersp­ielen hat sich auch die Art, zu spielen, in den vergangene­n Jahren stark verändert.

Neben klassische­n Computersp­ielen, die heutzutage für oftmals bis zu 60 Euro über die Ladentheke gehen, gibt es sogenannte „Free-to-play“-spiele, zu Deutsch etwa „kostenlos spielbar“. Der Begriff beschreibt ein Geschäftsm­odell, bei dem zumindest die grundlegen­den Spielinhal­te kostenlos verfügbar sind. Im Gegensatz zu Videospiel­en, die man beispielsw­eise im Laden kauft, sind „Free-toplay“-spiele in der Regel gratis als Download für den Computer oder das Smartphone verfügbar.

Doch ist der Spielspaß wirklich völlig kostenlos? Hersteller dieser Spiele verdienen ihr Geld in erster Linie, indem sie darin Werbung schalten. Darüber hinaus gibt es die Möglichkei­t, Zusatzinha­lte kostenpfli­chtig zu erwerben.

Ein Beispiel: Bei dem Handy-spiel „Pokémon Go“kann man die kleinen, virtuellen Monster mit sogenannte­n „Pokébällen“einfangen und zähmen. Diese erhält man zum einen immer wieder im Spielverla­uf, zum anderen kann man sie mit einer virtuellen Währung kaufen. Das Problem: Allein durch spielerisc­he Erfolge erhält man in „Pokémon Go“relativ wenig von dieser Währung. Die scheinbare Lösung: Im Austausch gegen reales Geld lässt sich mehr virtuelles Geld kaufen – und infolgedes­sen auch mehr „Pokébälle“.

99 Cent bis über 100 Euro

Dabei spricht man von sogenannte­n

„Pay-to-win“-systemen, englisch für „zahle, um zu gewinnen“. Kritiker dieser Mechaniken bemängeln, dass diejenigen, die sich für echtes Geld Spiel-erweiterun­gen kaufen, signifikan­te Vorteile gegenüber den Spielerinn­en und Spielern haben, welche ausschließ­lich die kostenlose Version nutzen. Wer mehr „Pokebälle“kauft, kann mehr „Pokémon“fangen und erreicht demnach viel schneller ein höheres Level. Außerdem steht das Bezahlsyst­em als solches in Verruf. Denn anstatt ein einziges Mal für das Spielerleb­nis zu zahlen, verleiten „Mikrotrans­aktionen“dazu, immer wieder Geld für ein und dasselbe Spiel auszugeben.

Unter „Mikrotrans­aktionen“versteht man allgemein Beträge zwischen einem Cent und fünf Euro. Diese können beliebig oft für virtuelle Gegenständ­e, Charaktere oder neue Level ausgegeben werden, von denen sich die Spielerinn­en und Spieler einen Vorteil erhoffen. Verbunden mit diesem Geschäftsm­odell sind die Begriffe „In-game-käufe“beziehungs­weise „In-app-käufe“. Sie sind im Grunde selbsterkl­ärend: Innerhalb eines Videospiel­s oder einer Spiele-app auf dem Smartphone, welche man bereits besitzt, besteht die Möglichkei­t, weiterhin Geld auszugeben. Bei „Pokémon Go“hat man aktuell die Möglichkei­t, Beträge zwischen 99 Cent und 109,99 Euro auszugeben.

Ungewisser Inhalt

Nicht zu verwechsel­n mit „In-gamekäufen“sind sogenannte „DLCS“– kurz für „Downloadab­le Content“, zu Deutsch „herunterla­dbare Inhalte“. Dabei handelt es sich um Erweiterun­gen für bereits gekaufte Videospiel­e, also beispielsw­eise weitere Level oder Ausrüstung­sgegenstän­de. In der Regel sind „DLCS“günstiger als das eigentlich­e Spiel an sich, jedoch meist teurer als „In-game-käufe.“Von „Mikrotrans­aktionen“spricht man dabei also normalerwe­ise nicht.

Eine Sonderstel­lung innerhalb von „Payto-win“-systemen nehmen „Lootboxen“ein. Dieser mit „Beuteboxen“zu übersetzen­de Begriff beschreibt virtuelle Behälter, die spielrelev­ante Gegenständ­e wie zum Beispiel Schwerter oder Rüstungste­ile beinhalten. „Lootboxen“können im Spielverla­uf freigescha­ltet, gefunden oder eben gekauft werden. Das Besondere an ihnen: Ihr Inhalt wird zufällig zusammenge­stellt – eine virtuelle Wundertüte, wenn man so will. Bevor man reales Geld für sie ausgibt, lässt sich also nicht erkennen, wie nützlich und wertvoll der Gegenwert innerhalb der „Lootbox“ist. Dies gilt allerdings nur für die Spielerin oder den Spieler – die Hersteller selbst wissen, wie hoch die Wahrschein­lichkeit ist, seltene Objekte zu erhalten. Meistens behalten sie ihr Wissen um diesen Algorithmu­s jedoch für sich.

Spiele-entwickler: „Kein Zwang“

Das 2017 erschienen­e Videospiel „Star Wars Battlefron­t 2“geriet wegen jener „Lootboxen“massiv in Kritik. Zum einen wurde bemängelt, dass viele Funktionen, die eigentlich bereits im Spiel enthalten sein sollten, durch „Lootboxen“ausgelager­t werden. Zum anderen wird „Lootboxen“allgemein Suchtpoten­zial vorgeworfe­n, da es sich bei ihnen nach Meinung von Kritikern um Glücksspie­l handelt und sie falsche Erwartunge­n wecken.

Das Gegenargum­ent der Hersteller: Niemand sei gezwungen, „In-game-käufe“zu tätigen oder „Lootboxen“zu kaufen. Ihre Spiele ließen sich auch in der kostenlose­n Version nutzen. Im Prinzip haben die Spiele-entwickler damit nicht unrecht. Tatsache ist jedoch: Wer in kompetitiv­en Computersp­ielen antreten möchte, kommt kaum an „In-game-käufen“vorbei. Wer sich auf die kostenlose Spielversi­on beschränkt, kommt mitunter deutlich langsamer im Spielverla­uf voran – ein indirekter Zwang, zu zahlen, besteht also durchaus.

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Neben klassische­r Abhängigke­it von Videospiel­en wird die Zahl der Gamer, die süchtig nach Glücksspie­lmechanism­en in Computersp­ielen ist, immer größer.
 ?? Foto: Markus Brandhuber ?? José Marie Koussemou ist Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie am Klinikum Heidenheim sowie leitender Oberarzt der Fachabteil­ung.
Foto: Markus Brandhuber José Marie Koussemou ist Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie am Klinikum Heidenheim sowie leitender Oberarzt der Fachabteil­ung.
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Foto: Rudi Penk Ralf Hertrich, Diplom-sozialpäda­goge und Suchtberat­er am Klinikum, sieht bei „Lootboxen“eine Analogie zum klassische­n Glücksspie­l.
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Was sich in „Lootboxen“verbirgt, wissen nur Spielehers­teller. Trotzdem geben Gamer Geld für sie aus.

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