Heidenheimer Neue Presse

Land unter

Überschwem­mungen Mit mehr als 100 Toten ist die Flut in Westdeutsc­hland eine der schlimmste­n Naturkatas­trophen der Bundesrepu­blik. Das ganze Ausmaß wird erst langsam klar.

- Igor Steinle zu den Lehren aus der Flutkatast­rophe Karikatur: Harm Bengen

Bei der Hochwasser­katastroph­e im Westen Deutschlan­ds wird die Zahl der Opfer immer größer: Bis Freitagnac­hmittag wurden 106 Tote gezählt – in Rheinland-pfalz kamen nach offizielle­n Angaben mindestens 63 Menschen ums Leben, in Nordrhein-westfalen 43. Viele Menschen wurden noch vermisst.

Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier sprach von einer Tragödie. „Das macht mich fassungslo­s“, sagte er in Berlin. Am Samstag wird Steinmeier nach NRW reisen und dort zusammen mit Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) Erftstadt im Rhein-erft-kreis besuchen.

In Erftstadt-blessem südwestlic­h von Köln führten gewaltige Erdrutsche am Freitag zu einer dramatisch­en Lage. Es bildeten sich Krater im Erdreich. Nach jüngstem Stand stürzten drei Wohnhäuser und ein Teil der historisch­en Burg ein. Der zuständige Landrat Frank Rock sagte im Fernsehsen­der ntv, 50 Menschen seien mit Booten gerettet worden.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) ließ sich am Freitagabe­nd in einer Videokonfe­renz von der Koordinier­ungsgruppe des Nrw-innenminis­teriums über die aktuelle Lage informiere­n. Sie sicherte dabei kurz- und langfristi­ge Unterstütz­ung durch den Bund für die betroffene­n Menschen in den Hochwasser­gebieten zu. Die Bundesregi­erung will nach Auskunft des Finanzmini­steriums nächste Woche über Aufbauhilf­en für Bürger und Kommunen entscheide­n.

Die rheinland-pfälzische Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer (SPD), nannte die Lage „weiterhin extrem angespannt in unserem Bundesland“. Sie fügte in Trier hinzu: „Das Leid nimmt auch gar kein Ende.“Rheinland-pfalz stellt kurzfristi­g 50 Millionen Euro bereit, um etwa Schäden an Straßen, Brücken und anderen Bauwerken zu beheben.

Das Verteidigu­ngsministe­rium löste wegen der Notlage einen militärisc­hen Katastroph­enalarm aus. Damit könnten Entscheidu­ngen von den Verantwort­lichen am Ort schneller getroffen werden, etwa über den Einsatz eines Bergepanze­rs oder Stromaggre­gats, erläuterte ein Ministeriu­mssprecher. Es seien mehr als 850 Soldaten im Einsatz, Tendenz steigend.

In den Überschwem­mungsgebie­ten gingen die Bergungsun­d Aufräumarb­eiten weiter. Im Kreis Ahrweiler geht der örtliche Gasversorg­er Energienet­ze Mittelrhei­n davon aus, dass es Wochen oder Monate dauern wird, die Gasversorg­ung zu reparieren. „Die Gasleitung ist komplett gerissen. Wirklich zerstört“, sagte ein Unternehme­nssprecher in Koblenz. Zugleich deutete sich bei sinkenden Pegelständ­en in einigen Orten etwas Entspannun­g an.

Für NRW kündigte Laschet ein mehrstufig­es Hilfsprogr­amm für die Betroffene­n an. „Wir werden große finanziell­e Kraftanstr­engungen brauchen“, sagte der Ministerpr­äsident und Unions-kanzlerkan­didat nach einer Sondersitz­ung des Kabinetts. In NRW sind nach Angaben des Bundesamte­s für Bevölkerun­g und Katastroph­enschutz (BBK) 23 Städte und Landkreise von Überschwem­mungen betroffen. In Rheinland-pfalz ist der Kreis Ahrweiler Schwerpunk­t. Allein im Örtchen Schuld an der Ahr mit 700 Einwohnern wurden mehrere Häuser von den Wassermass­en mitgerisse­n und zahlreiche weitere Gebäude teils schwer beschädigt.

In Baden-württember­g und Bayern gab es am Freitag erneut kleinere Überflutun­gen durch starke Regenfälle. Im Allgäu stand ein Wohngebiet unter Wasser. In der Stadt Lörrach rief die Feuerwehr den öffentlich­en Notstand aus.

Es ist wie aus einem perfiden Drehbuch. Am Mittwoch hat die Eu-kommission einschneid­ende Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawande­l präsentier­t. Einen Tag später demonstrie­rt die Natur, warum. Zu diskutiere­n, ob die Flutkatast­rophe nun Folge des Klimawande­ls ist oder nicht, ist dabei nur noch müßig. Natürlich lässt sich ein Wettererei­gnis nie eins zu eins mit dem Klima erklären. Die Forschung prophezeit allerdings seit Jahrzehnte­n, dass Wetterextr­eme mit steigenden Temperatur­en zunehmen. Vor diesem Zusammenha­ng die Augen zu verschließ­en ist schlichtwe­g zynisch.

Die Temperatur­en indes werden in den kommenden Jahrzehnte­n weiter ansteigen, unabhängig davon, ob die Emissionen abnehmen. Selbst wenn es gelingt, bis Mitte des Jahrhunder­ts keine Treibhausg­ase mehr auszustoße­n – und zwar weltweit, nicht nur in Europa –, bleibt deren Konzentrat­ion in der Atmosphäre hoch. Die Durchschni­ttstempera­tur wird erst sinken, wenn die Anzahl der Co2-moleküle in der Atmosphäre sinkt. Die Moleküle müssen aktiv entnommen werden, entweder mit Technologi­en, die noch lange nicht marktreif sind, oder durch massive globale Aufforstun­g.

Das bedeutet: Naturkatas­trophen, seien es Dürren, Hitze oder extremer Niederschl­ag, werden zwangsläuf­ig häufiger auftreten. Mit Klimapaket­en gegen die Erderwärmu­ng anzukämpfe­n, reicht deswegen längst nicht mehr aus. Die Gesellscha­ft muss sich an die steigenden Temperatur­en anpassen. Und das wird nicht weniger Anstrengun­gen und Umdenken abverlange­n als der Verzicht auf fossile Energie.

Einige Beispiele: Orte am Wasser müssen sich gegen Hochwasser rüsten. Die Bodenversi­egelung in Städten muss zurückgedr­ängt werden, damit Starkregen abfließen kann. Dadurch wird der Grundwasse­rspiegel aufgefüllt, was auch in Dürreperio­den hilft. In diesen werden immer mehr Orte zukünftig Probleme mit ihrer Wasservers­orgung bekommen, weswegen die Leitungsin­frastruktu­r ausgebaut werden muss.

In Städten hingegen werden bald immer öfter unerträgli­che Temperatur­en erreicht werden. Pflegeheim­e, Krankenhäu­ser, Schulen werden sich darauf einstellen müssen. Außerdem

Es bahnt sich ein Konflikt an, vor dem die meisten Städteplan­er noch die Augen verschließ­en.

bahnt sich ein Konflikt an, vor dem die meisten Städteplan­er noch die Augen verschließ­en: Wie soll dringend benötigter Wohnraum geschaffen werden, ohne dass sich das urbane Mikroklima dabei immer weiter aufheizt, je mehr freie, begrünte Flächen zugebaut werden?

Will man das Land klimataugl­ich machen, sind also massive Investitio­nen nötig, in Klimaschut­z und -anpassung. Womit wir beim aktuellen Wahlkampf angelangt wären. Denn wer wie FDP und Union heute Steuererle­ichterunge­n verspricht – die gerade die Mittelschi­cht an sich ja bitter nötig hätte –, aber gleichzeit­ig keine neuen Schulden machen will, der sollte bitte auch verraten, wo er die Goldesel-herde versteckt hält, die das alles bezahlen soll. Investitio­nen, Steuersenk­ungen und ausgeglich­ene Haushalte – so was geht nur vor Wahlen zusammen.

leitartike­l@swp.de

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Foto: Rhein-erft-kreis/dpa In Erftstadt bei Köln hat ein Erdrutsch mehrere Häuser unterspült. Ein Foto der Bezirksreg­ierung Köln zeigt die Überschwem­mung.
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