Die große Ungewissheit
Migrationsministerin Marion Gentges und die Abgeordneten stimmen die Bürger auf Belastungen im Zuge des Kriegs in der Ukraine ein. Sie sind aber zum Teil selbst ratlos.
An einen „kleinen Jungen auf einer Schaukel in der Erstaufnahmeeinrichtung in Meßstetten, leichenblass“, erinnert sich Justizund Migrationsministerin Marion Gentges (CDU) noch genau: „Die Arme um den Hals des Schaukeltiers geschlungen, den Blick starr ins Leere gerichtet“, schildert sie bewegt ihre Beobachtung bei einem Besuch in der einstigen Kaserne. „Blanker Terror“durch Russland habe in der Ukraine eine Fluchtwelle ausgelöst, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg in dieser Form nicht mehr erlebt habe, erklärte die Ministerin.
Der Landtag debattierte am Mittwoch über die Folgen. In allen Redebeiträgen war der Respekt vor der Aufgabe zu spüren, die auf das Land zukommt. Dabei gab es auch die Sorge, dass je länger der Krieg andauert und je höher die Flüchtlingszahlen steigen, die Hilfsbereitschaft leidet. So sagte beispielsweise Spd-fraktionschef Andreas Stoch: „Wir müssen auch mit den Menschen darüber reden, dass diese Solidarität, die wir heute zusichern, nicht eine Sache von wenigen Tagen und Wochen ist.“Viele Flüchtlinge würden so schnell nicht zurückkehren können. Stoch rechnet mit doppelt so hohen Zahlen im Land wie bei der Flüchtlingskrise 2015/16.
Der Dank an die ehren- und hauptamtlichen Helfer, Fragen der Registrierung, Unterbringung und Betreuung standen im Vordergrund der Debatte. Die Justizministerin forderte den Bund auf, die Kommunikation mit den Ländern zu verbessern. „Es geht um ein Mindestmaß an Planungssicherheit. Wir setzen Haupt- und Ehrenamtliche ein, die dann umsonst warten“, so Gentges mit dem Blick auf die vom zuständigen Bundesamt für Güterverkehr angekündigten Busse mit Flüchtlingen, die nicht oder fast leer kommen, was in verschiedenen Städten im Land passierte.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), der am
Nachmittag mit der Justizministerin die Landeserstaufnahme in Sigmaringen besuchte (siehe Info-kasten), beteiligte sich nicht an der Debatte. Er hatte am Dienstag eine Regierungserklärung für den 6. April angekündigt und die Baden-württemberger auf schwierige Zeiten eingestimmt sowie ein Maßnahmenbündel angekündigt.
Die Rede der Ministerin lieferte einen Vorgeschmack. „Was kommt auf uns zu? Es ist überwiegend ungewiss.“In den nächsten Wochen und Monaten stünden große Anstrengungen bevor, so Gentges. „Wir können aktuell nicht sagen“, wie viele Flüchtlinge im Land untergekommen sind, räumte die Ministerin ein. Dies hat auch damit zu tun, dass für ukrainische Flüchtlinge keine Registrierungsund Residenzpflicht gilt, viele zunächst bei Freunden und Verwandten unterkommen.
Die Ministerin dankte den Kommunen für ihre Bereitschaft, zusätzliche Plätze anzubieten, der Zugriff auf weitere Hallen, Klöster und sonstige Gebäude werde aber bald notwendig sein. Angestrebt sei eine Verteilung nach Einwohnerstärke der Kreise und bereits dort aufgenommener Flüchtlinge. Voraussetzung sei aber eine funktionierende Registrierung, auch aus Sicherheitsgründen. Gentges verwies auf zeitraubende Registrierungsvorgänge an den dafür zwingend vorgesehen eigenen Computerterminals. Deren Zahl soll erhöht werden, der Aufwand verringert. So sollen beispielsweise nicht mehr von allen zehn Fingern eines Angekommenen die Abdrücke genommen werden, sondern nur noch von vier Fingern.
Der Grünen-abgeordnete Daniel Lede Abal prognostizierte: „Die Wahrheit ist, es werden noch viel mehr Menschen fliehen.“Man brauche noch viel mehr Unterkünfte: „Wir wollen weder Zeltstädte noch Obdachlosigkeit.“Er mahnte, die sonstigen Flüchtlinge nicht zu vergessen.
Der Fdp-abgeordnete Hans Dieter Scheerer kritisierte die Landesregierung. „Wir erwarten pragmatische Lösung, das Land sollte nicht versuchen, den Bund vorzuführen.“Und der Afd-abgeordnete Rainer Podeswa bekannte sich zur Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine und würdigte besonders den Einsatz der osteuropäischen Länder: „Diese Länder strafen alle Moralapostel Lügen, die ihnen in der Vergangenheit vorgeworfen haben, herzlose Antieuropäer zu sein.“