Nadija, ihre Kinder und ich
Redakteurin Manuela Harant hat drei Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Sie berichtet über kleine Siege und große Herausforderungen.
Am Ende geht alles ganz schnell. „Du hattest doch so eine Ferienwohnung in eurem Haus, ist da noch etwas frei?“, fragt mich die Bekannte aus Ulm. Weil die 60 Quadratmeter mit Küche und Bad ohnehin die nächsten Wochen leer gestanden wären, reagiere ich sofort mit einem knappen „Klar, gerne. Jederzeit!“
Drei Tage später stehen Nadija, Artur und Mascha Tykhomyrova vor unserer Haustür – bepackt nur mit jeweils einem kleinen Rucksack und zwei Leinenbeuteln. Der Gedanke, dass es uns selbst mal so gehen könnte, ist so beängstigend, dass wir ihn sofort verdrängen. Wir, das ist eine Kleinfamilie im schwäbischen Staig, rund 15 Kilometer südlich von Ulm. Und jetzt? Essen besorgen, auf dem Amt registrieren, Sim-karte fürs Handy kaufen, Freizeitaktivitäten organisieren. Die To-do-liste füllt sich schnell und wird immer länger. Mit Vollzeitjob und Kindergartenkind ist das für uns vor allem eine zeitliche Herausforderung.
Weil die Gäste praktisch kein Wort Deutsch oder Englisch sprechen, ist die Verständigung zunächst die größte Herausforderung. Auch deshalb beschränken sich die ersten Konversationen – bevorzugt über eine Dolmetscher-app auf dem Handy – auf Organisatorisches. Undenkbar, auf diesem Niveau sensible Fragen wie nach dem Verbleib des zurückgelassenen Vaters und Ehemanns oder den Sorgen um die restliche Familie in der Ukraine zu stellen.
Über den Welt-turnverband und das Leistungszentrum der
TSG Söflingen ist Familie Tykhomyrova von Kiew nach Ulm gekommen. Deshalb besteht die Hauptaufgabe in den ersten Tagen darin, Mascha jeden Nachmittag zum Training nach Ulm zu fahren, doch schon nach ein paar Tagen hat die 16-Jährige eine Sportkameradin gefunden, mit der sie Bus fahren kann. Der 14-jährige Artur will unbedingt Fußball spielen, schon am Tag nach der Ankunft gibt es grünes Licht: Der SC Staig lässt ihn unkompliziert und vor allem kostenfrei zweimal wöchentlich im Training der C-jugend kicken. Die Augen leuchten, als ich es ihm mitteile, Sport als Integrationstreiber funktioniert in Deutschland bestens.
Überhaupt ist die Unterstützung für die ersten Neuankömmlinge in dem 3000-Einwohner-ort riesig. Ungefragt landen Lebensmittel, gekochtes Essen und Kleiderspenden vor der Tür. Bürger, die bereits in der Flüchtlingskrise 2015 Erfahrungen gemacht haben, geben wertvolle Tipps. Einer stellt der ukrainischen Mutter sogar sein Auto zur Verfügung, doch die 43-Jährige ist vorsichtig: „Ein Auto zu leihen, bringt eine große Verantwortung mit sich“, lese ich auf ihrem Handy.
Trotz eingeschränkter Kommunikation wird schnell klar, was der gelernten Zahnärztin Nadija Tykhomyrova wirklich wichtig ist: Dass ihre Kinder wieder in die Schule gehen, Deutsch lernen und sie Arbeit findet – falls es mit der Rückkehr nach Kiew länger als ein paar Wochen dauert. Kurzum: Sie wollen so schnell wie möglich in diesem fremden Land auf eigenen Beinen stehen.
Die größte Herausforderung für die Betreuer ist es, einem völlig aus den Fugen geratenen Leben wieder einen Sinn zu geben – und dabei von der Mitarbeit vieler Personen und Institutionen abhängig zu sein. Nicht zuletzt der Behördendschungel macht vieles aufwendig. Da sind die Schulen und zunächst ungeklärte Zuständigkeitsfragen, bis dann klar ist, dass die beiden Teenager erst einmal in die Gemeinschaftsschule Staig gehen können. Da ist der Arzt, der sich nicht traut, eine Corona-impfung zu verabreichen, obwohl das Bundesgesundheitsministerium sagt, dass dies für ukrainische Geflüchtete ohne weiteres möglich sei. Da ist die
Gemeindeverwaltung, die bei der Suche nach einer dauerhaften Unterkunft keine Hilfe bietet, weil die Geflüchteten nicht über Landeserstaufnahmeeinrichtungen hergekommen sind. Und da ist der langsame Registrierungsprozess beim Landratsamt Alb-donau, ohne den Mutter Nadija weder über ein Bankkonto noch eine Krankenversicherung verfügen geschweige denn Arbeit suchen kann.
Dass bei all dem Organisieren das Zwischenmenschliche zu kurz kommt, bekomme ich an einem sonnigen Vormittag zu spüren. Als ich Nadija gerade erklären möchte, dass die Wohnung nur bis Mitte April frei ist und wir für die Zeit danach etwas Neues finden müssen, bricht es aus ihr heraus: Sie wolle eigentlich bis dahin wieder zu Hause sein, aber es sehe momentan leider nicht danach aus. Als die Worte „Krieg“und „Explosionen“fallen, stockt ihre Stimme, erstmals seit ihrer Ankunft kommen die Tränen. „Entschuldigung“, sagt sie auf Deutsch. „Es ist in Ordnung“, sage ich: „Wir schaffen das zusammen. Alles wird gut.“
In dem Moment wird mir bewusst, welch großes Versprechen das doch ist. Und wie groß die Verantwortung ist, die ich da mit meinem „Ja“vor zehn Tagen auf mich geladen habe. Gleichzeitig habe ich in meinem Leben noch nie in so kurzer Zeit so viele Probleme für mehrere hilfsbedürftige Personen gleichzeitig lösen können. Das entschädigt für so manches Hindernis bei dem Unterfangen, drei Menschen aus einem Kriegsgebiet den Start in ein neues Leben zu erleichtern.
Die Unterstützung in dem Ort ist für die Neuankömmlinge riesig.