Gute und böse Geister
Martin Walser feiert am Bodensee seinen 95. Geburtstag und erzählt Buch sehr todesnah von seinen Träumen und Gebrechen. in einem
Am Ende möchte auch Martin Walser wie so viele alte Menschen wieder am Anfang ankommen: daheim, in der Kindheit. Also in Wasserburg am Bodensee, wo die Eltern die Bahnhofswirtschaft betrieben hatten. Aber vielleicht war Walser gedanklich auch nie von dort weggezogen, aus seiner ureigenen Welt, die ihn so nachhaltig prägte, von der er in seinem Roman „Ein springender Brunnen“erzählt.
Wasserburg ist sein „Traumschauplatz“– so hat es Walser nun in seinem „Traumbuch“formuliert. Auch seinen 95. Geburtstag an diesem 24. März feiert dieser letzte deutsche Großschriftsteller aus einer Generation, die im Nationalsozialismus aufwuchs und den Zweiten Weltkrieg in Uniform kannte, nicht ohne ein neues Werk. Es enthält oft verstörend nüchterne Protokolle der Nächte eines greisen, aber dann doch wachen Mannes: Heimweh und Todesahnungen; die guten und bösen Geister seines Lebens tauchen auf; intellektuelle Nachträge, Spuren zum Werk; erschreckend
Schon das Bedürfnis, Träume zu deuten, kommt mir absurd vor. Martin Walser
In „Das Traumbuch“
sachliche Notizen aus dem Alltag eines Gebrechlichen, von der Atemnot bis zum Einnässen. Und alle Wege und Kommentare führen zurück nach Wasserburg – die Künstlerin Cornelia Schleime hat für dieses Buch historische Postkarten übermalt, verfremdet, karikiert.
Schon das Bedürfnis, Träume zu deuten, komme ihm absurd vor, schreibt Walser mit sachlicher Ironie, seine Träume seien ihm lieb und wert, ohne dass sie nach „billigsten Schlüsseln“übersetzt werden müssten. Schön für ihn, Psychoanalytiker könnten freilich Doktorarbeiten mit dem „Traumbuch“-material schreiben. Versagensängste, Beischlafwünsche, Penisvergleiche, Minderwertigkeitsgefühle, Mordfantasien und sonstige Komplexe. Einmal greift Joachim Kaiser auf dem Klo nach Walsers Geschlechtsteil. Der fürchtet, dass der Kritiker es ihm übelnehmen werde, wenn er ihm seine sexuellen Angebote oder Wünsche zurückweise. Dann sieht Walser einen ihn darstellenden Schauspieler, der einen Revolver unter der Jacke trägt, und er hofft, dass der keinen Fehler macht.
Auch Marcel Reich-ranicki erscheint, der Erzfeind nach Wirkungstreffern in Romanverrissen – und seit Walser 1998 in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels davon sprach, dass Auschwitz sich nicht dafür eigne, zur „Drohroutine“zu werden, zum jederzeit einsetzbaren Einschüchterungsmittel,
zur „Moralkeule“. Der Umgang mit der deutschen Schuld, mit der Ns-vergangenheit – das war immer ein großes Thema Walsers, der dann zwangsläufig im bewusst provokativen Spiel mit der Unschärfe, in sprachlicher Risikobereitschaft unter den Verdacht des Antisemitismus geriet. Das griff zwar zu weit, Walser aber schrieb, mit Rachegefühlen, auch den üblen Roman „Tod eines Kritikers“(2002) – und meinte Reich-ranicki. In einem Traum nun gewinnt dieser in einem Tv-quiz furios gegen Walsers Tochter Franziska: „Vor lauter Übermut reißt er noch ein paar Sessellehnteile weg und schleudert sie in die Luft.“
Die letzten Dinge
Das ist alles erschütternd nackt zu lesen. Und weit entfernt von Walsers erstem Roman „Ehen in Philippsburg“; 1957, also vor sagenhaften 65 Jahren erschienen; damals war der Autor nicht mit sich selbst beschäftigt gewesen, sondern attackierte das wieder ins Restaurative verfallende Wirtschaftswunderdeutschland. Und zwar gewiss als ein „Virtuose des Sehens und Wahrnehmens“, wie der Schriftsteller Arnold Stadler, einer der kundigsten Walser-versteher, in einem großen Essay schreibt, der sich in einem jüngst im Patmos Verlag erschienenen Buch findet, das just den Titel „Lieber träumen wir alles, als dass wir es sagen“trägt. Der Traum, ja, übertrifft alle Literatur. Ist aber offenbar auch der Motor allen Schreibens.
Ansonsten zieht Martin Walser schon seit Jahren lyrisch-aphoristisch Bilanz, beschäftigt sich mit den letzten Dingen. In „Spätdienst“(2018) etwa schrieb er: „Wahrscheinlich ist die Leere, die ich jetzt spüre, das Beste, was es gibt: Freiheit.“