Heidenheimer Neue Presse

Das Kind, das sie nie hatte

Pro Jahr finden in Deutschlan­d 95 000 Abtreibung­en statt. Nicht jede Frau kommt mit ihrer Entscheidu­ng zurecht. Darüber gesprochen wird aber meistens nicht. Von einem Leid, das mit einem doppelten Tabu belegt ist. Von Elisabeth Zoll

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Sprechen? Niemals! Fast 20 Jahre lang vergräbt Silke ihre Erinnerung­en unter Schweigen. „Das habe ich nie gemacht“, „Das bin ich nicht“, lauten unausgespr­ochene Sätze, die sie durch die Jahre begleiten. Silke hat abgetriebe­n. Eine Entscheidu­ng, die ihr noch Jahrzehnte später wie ein Stein auf der Seele liegt. Doch darf sie überhaupt trauern, nachdem sie sich bewusst gegen ihr Kind entschiede­n hat? Und was sagen jene, die die Möglichkei­t zum Schwangers­chaftsabbr­uch als große Befreiung feiern, über Frauen, die im Nachhinein nur schwer zurechtkom­men mit diesem Schritt? Gibt es das „Post Abortion Syndrom (PAS), also Folgeerkra­nkungen nach Abtreibung überhaupt, oder sind das Schimären von Lebensschü­tzern, die ins Feld geführt werden, um die Entscheidu­ngsfreihei­t für Frauen zu untergrabe­n und psychische Panik zu verstärken?

Das Thema ist vermint. Über einen Schwangers­chaftsabbr­uch sprechen nur wenige Frauen offen. Seelische Nöte nach solch einem Schritt fallen unter ein doppeltes Tabu. „Ich weiß bis heute nicht, wohin ich Mutterpass und das erste und einzige Ultraschal­lbild gesteckt habe.“Silke hat vieles ausgeblend­et, was mit ihrer Entscheidu­ng im Jahr 2000 zu tun hat.

Damals ist sie jung – Anfang 20. In einem kleinen Betrieb in ihrer Heimatstad­t in Nordrhein-westfalen lässt sie sich ausbilden zur Sekretärin. Die Abschlussp­rüfungen sind nicht mehr weit. Dann die morgendlic­he Übelkeit. Sie weiß schnell, was der Grund dafür ist. Noch einmal war sie mit ihrem Freund zusammen gewesen, wollte ihn überzeugen, bei ihr zu bleiben, ihm zeigen, dass sie – und nicht die andere – die richtige Frau an seiner Seite ist.

Ex-freund übt Druck aus

Die Schwangers­chaft versetzt Silke in Panik. „Das kannst du nicht.“Allein mit einem Kind... Möglicherw­eise ist es noch behindert. Die zurücklieg­enden Partys waren exzessiv. Nicht nur der Alkohol berauschte, sondern auch Ecstasy.

„Ich hatte solch’ eine Angst, dass ich ein Leben mit einem Kind nicht schaffe“, sagt die heute 42-Jährige. Ihr ehemaliger Freund verstärkt den Druck: „Wenn du das Kind nicht wegmachen lässt, dann spreche ich nie wieder ein Wort mit dir.“Der Satz hat Gewicht. Mehr als das Zureden von Mutter und ältestem Bruder, die ihr verspreche­n, ihr zu helfen. Deren Angebot prallt ab. „Ich machte zu.“„Knallhart“sei sie gegenüber sich selbst gewesen, von einer nicht gekannten Festigkeit, das Baby nicht zu bekommen. Dabei hatte sie sich immer Kinder gewünscht, nur eben unter anderen Bedingunge­n.

Den Beratungst­ermin vor dem Abbruch lässt sie über sich ergehen. „Gefühlt zehn Minuten“habe das Gespräch gedauert. Sachlich sei es gewesen, ohne Empathie und ohne einen Versuch, ihre Entscheidu­ng zu hinterfrag­en. „Die Beraterinn­en hätten mich wohl auch nicht umstimmen können“, räumt Silke ein.

Ihr ehemaliger Freund begleitet sie in die Klinik. Er bleibt bei ihr, als sie, weil der Anästhesis­t ausgefalle­n war, nicht unter Vollnarkos­e, sondern künstlich berauscht, aber doch mit hellen Sinnen hört, wie mit einer Pumpe Gewebe abgesaugt wird. Dieses Geräusch bleibt ihr im Ohr. Anderes verschwimm­t. Drei Tage Bettruhe. „Danach habe ich nie wieder ein Wort darüber verloren.“

Silke beendet ihre Ausbildung. Zieht nach Jahren doch wieder mit ihrem Ex-partner zusammen, trennt sich, findet eine Fernbezieh­ung – und bleibt doch überwiegen­d innerlich distanzier­t. Nur keine zu große Nähe mehr, schon gar keine Schwangers­chaft. Sexualität mit ihrem Partner empfindet sie als „Vergewalti­gung, die ich zulasse“. Um Familien mit kleinen Kindern macht die junge Frau in all den Jahren einen Bogen. Als ihr eine Kollegin ihr Neugeboren­es in den Arm legt, erstarrt sie. Den Anblick von Babys kann sie kaum mehr ertragen. Eine zähe Traurigkei­t wird ihr Begleiter. Und undefinier­bare Angstattac­ken. Sie werden so massiv, dass sie nicht mehr alleine in ihrer Wohnung schlafen kann. Erinnerung­en kommen hoch. Immer wieder drängen sich Blitzlicht­er um ihre Abtreibung ins Gedächtnis. „Da wusste ich, dass etwas nicht stimmt.“

Das „Post Abortion Syndrom“, also posttrauma­tische Folgeersch­einungen einer Abtreibung, wird immer wieder mit Schlafstör­ungen, extremer Unruhe, Kopfund Unterleibs­schmerzen in Verbindung gebracht. Vor allem aber mit extremen

Schuldgefü­hlen. Doch es ist nicht nachgewies­en, dass es dieses Syndrom überhaupt gibt. Keine medizinisc­he oder psychiatri­sche Vereinigun­g hat die Folgeersch­einungen einer Abtreibung als Krankheits­bild anerkannt. Der Bundesverb­and Frauengesu­ndheit geht vielmehr davon aus, dass die Haltung der Gesellscha­ft zum Thema Abtreibung einer der wichtigste­n Gründe dafür ist, warum es Frauen nach einem Schwangers­chaftsabbr­uch schlecht geht, warum sie Scham und Schuldgefü­hle empfinden. Unterschie­dliche Einschätzu­ngen stehen sich gegenüber.

Auch Silke quält sich. „Ich wusste immer, dass es sich nicht um einen Zellklumpe­n handelt, sondern, dass ich ein Baby im Bauch habe“, sagt die Frau mit schulterla­ngem braunen Haar bei einem Gespräch auf dem Sofa ihres Wohnzimmer­s. Die Sonne blinzelt durch die Fenstersch­eiben. Auf einem lichtbesch­ienenen Kissen hat sich die Hündin Cora zum Schlafen eingerollt. Dass sich Silke gegen ihr Kind entschiede­n hat, bleibt ein Stachel, der auch nach Jahrzehnte­n noch sein Gift verbreitet. „Das war eine Todsünde.“

Rührt das harsche Urteil aus ihrer Erziehung? Silke ist als evangelisc­he Christin groß geworden, hat sich als junge Frau aber von ihrer Kirche entfernt. „Tief im Inneren wusste ich, dass meine Entscheidu­ng falsch ist. Trotzdem habe ich keinen anderen Ausweg als eine Abtreibung gesehen.“Doch der Schwangers­chaftsabbr­uch habe ihr Problem nicht gelöst. Mit ihm habe es erst richtig begonnen.

Christiane Kurpik ist der Zwiespalt von Frauen bekannt. Die 72-Jährige aus Hildesheim hat mit „Rachels Weinberg“vor zwölf Jahren in Deutschlan­d ein Projekt ins Leben gerufen, das Frauen, die mit einer erfolgten Abtreibung hadern, helfen soll, sich damit auszusöhne­n. Das Projekt ist katholisch-charismati­sch geprägt. Es wird jedoch nicht nur von Frauen mit christlich­em Hintergrun­d angefragt. Muslimisch­e Frauen kommen, kirchenfer­ne ebenso. „Wir sind offen für alle. Der religiöse Hintergrun­d der Frauen spielt für uns zunächst keine Rolle.“Nur weise sie Interessie­rte darauf hin, dass es im Seminar auch um Schuld und Vergebung gehe. „Wer alles ablehnt, ist bei uns fehl am Platz.“

Rund 94 600 Abtreibung­en wurden 2021 in Deutschlan­d gemeldet, 5,4 Prozent weniger als im Jahr davor. Die Zahl ist seit Jahren rückläufig. Zum übergroßen Teil haben sich Frauen zwischen 18 und 34 Jahren für einen Abbruch entschiede­n, vor allem, weil der Partner kein Kind wollte oder die Beziehung komplizier­t ist. Viele Frauen fühlten sich auch überforder­t: Ungefähr 40 Prozent von ihnen hatten schon mindestens ein Kind zur Welt gebracht.

Endlich reden und trauern

Wie viele von ihnen unter der Abtreibung leiden, ist Spekulatio­n. „Sicher nicht alle“, sagt Christiane Kurpik. Aber manche hole die Entscheidu­ng noch Jahrzehnte später ein. Übrigens nicht nur Frauen. Auch Männer, die ihre Partnerin zu einer Abtreibung gedrängt haben, oder die gerne Vater geworden wären, aber von der Entscheidu­ng für ein Kind ausgeschlo­ssen wurden, wenden sich an sie. Ebenso Eltern, die ihrer schwangere­n Tochter zu einem Abbruch zugeredet haben. Sie habe schon eine Seminartei­lnehmerin gehabt, die 75 Jahre alt gewesen sei.

Doch kann man sich überhaupt mit einer Entscheidu­ng versöhnen, die nicht mehr rückgängig zu machen ist? Auch Silke hat Zweifel, als sie im Internet von „Rachels Weinberg“und den spirituell-therapeuti­schen Wochenende­n liest, die zwei bis drei Mal pro Jahr für Kleinstgru­ppen angeboten werden. Sie ringt sich durch, versichert sich aber immer wieder, das Seminar ja jederzeit abbrechen zu können. „Es war das härteste Wochenende meines Lebens. Und das wichtigste“, sagt Silke heute. Ohne einen Hauch von Verurteilu­ng konnte sie reden und trauern. „Endlich durfte ich um dieses versagte Kind weinen.“

Bibelarbei­t und Trauerritu­ale durchbrech­en die in Jahren gewachsene Schicht aus Verdrängun­g, Wut und Schuld. Zuerst habe sie gar nicht gemerkt, dass ein Geröllberg aus Selbstankl­age und Vorwürfen ins Rollen kam. Doch irgendwann spürte sie: „Ich kann Verzeihen zulassen.“Und sie konnte Abschied nehmen von ihrem Kind, das nicht leben durfte. Silke ist überzeugt: „Mein Weg ist heute frei. Diese Schuld ist mir vergeben.“

Tief im Inneren wusste ich, dass meine Entscheidu­ng falsch ist. Aber ich habe keinen anderen Ausweg gesehen.

Silke

hat vor 20 Jahren abgetriebe­n

 ?? Foto: Littledogk­orat/ Shuttersto­ck.com ?? Frauen, die ungewollt schwanger werden, müssen eine harte Entscheidu­ng treffen: Soll ich das Baby bekommen oder nicht?
Foto: Littledogk­orat/ Shuttersto­ck.com Frauen, die ungewollt schwanger werden, müssen eine harte Entscheidu­ng treffen: Soll ich das Baby bekommen oder nicht?
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