Heidenheimer Neue Presse

Der große Rückschlag

Angesichts von Kriegen und der Corona-pandemie überdenken immer mehr Unternehme­n ihre internatio­nalen Standorte. Vor allem die Abhängigke­it von China steht im Fokus.

- Von Igor Steinle

Möchte man sich den Welthandel anschauen, muss man die Website „Marine Traffic“besuchen. Alle Containers­chiffe und Tanker, die die Waren und Rohstoffe der Erde über die Weltmeere transporti­eren, sind dort in Echtzeit als kleine Dreiecke und Kreise verzeichne­t. An einem Ort sah man zuletzt so viele davon, dass daneben kein Meer sichtbar war: Vor dem größten Hafen der Welt in Shanghai staute sich der Welthandel, weil ein Lockdown die chinesisch­e 26-Millionen-metropole blockierte.

Die Folgen der rigiden chinesisch­en Null-covid-politik treffen nach und nach die ganze Welt. Lieferunge­n wichtiger Güter verzögern sich, das Warengebot sinkt, dementspre­chend steigen die Preise – und das nicht zum ersten Mal in den vergangene­n Jahren. Gemeinsam mit dem Ukraine-krieg reiht sich der chinesisch­e Lockdown ein in eine Kette von Hieben gegen den internatio­nalen Handel. „Der Putin-schock dürfte sich als der dritte große Rückschlag für die Globalisie­rung und die globalen Lieferkett­en in den letzten Jahren erweisen, nach dem Handelskri­eg zwischen den USA und China sowie den Unterbrech­ungen der Lieferkett­en im Zusammenha­ng mit Covid“, analysiere­n die Experten der Deutsche-bank-fondstocht­er DWS.

Die Wirtschaft reagiert auf die neue Lage verunsiche­rt und stellt ihre internatio­nalen Standorte auf den Prüfstand: Ein Drittel von 4200 befragten Unternehme­n bewertet aufgrund der globalen Verwerfung­en die Risiken ihrer Standorte neu, berichtet die deutsche Außenhande­lskammer. „Nicht nur der russische Angriffskr­ieg in der Ukraine mit seinen Folgen zeigt, dass ein kompletter Ausfall von Geschäftsb­eziehungen möglich ist“, sagt Volker Treier, Außenwirts­chaftschef beim Deutschen Industrie- und Handelskam­mertag (DIHK).

Eine solche Tendenz zeichnet sich bereits seit Jahren ab: Forscher und Ökonomen sprechen von einer Verlangsam­ung der Globalisie­rung, manche gar von „Deglobalis­ierung“. Die aktuellen Entwicklun­gen verstärken den Trend nochmal. Es werde nach der Zäsur des Ukraine-krieges kein Zurück zur bisherigen Globalisie­rung geben, glaubt der Münchner Historiker Andreas Wirsching. Gerade Deutschlan­d müsse sich „auf weitere Störungen des internatio­nalen Handels, wirtschaft­liche und finanziell­e Unsicherhe­it“einstellen.

Denn nur wenige Staaten haben vom Welthandel so sehr profitiert wie die Bundesrepu­blik. 80 Prozent der deutschen Bruttowert­schöpfung oder 8,4 Millionen Arbeitsplä­tze hängen laut dem Forschungs­institut Prognos mit Auslandsge­schäften zusammen. Aufgrund seiner Exportstär­ke konnte Deutschlan­d, das gerade mal ein Prozent der Weltbevölk­erung stellt, zur viertgrößt­en Volkswirts­chaft aufsteigen. Billige Importe hielten neben anderen Faktoren die Inflations­rate niedrig. Die wirtschaft­liche Vernetzung habe jedem Deutschen seit dem Mauerfall ein Wohlstands­plus von 1112 Euro jährlich gebracht, errechnete die Bertelsman­n-stiftung 2018.

Was passiert, würde man die ausgelager­ten Teile der Produktion komplett nach Deutschlan­d zurückhole­n, hat das Münchner ifo-institut jüngst untersucht. Das Ergebnis: Die Wirtschaft­sleistung würde um fast 10 Prozent schrumpfen. Dementspre­chend bleibt der Glaube an die Globalisie­rung hierzuland­e sozusagen Staatsräso­n. „Die Deglobalis­ierung funktionie­rt nicht“, sagte Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) vor kurzem. Sie sei keine gute Idee und „auch keine gute Entwicklun­g“. Gleichzeit­ig jedoch, so warnt der Kanzler, müsse man sich fragen, „welche Abhängigke­iten wir uns künftig leisten können und wollen, etwa bei strategisc­h wichtigen Technologi­en oder Rohstoffen“.

Meinen kann er damit nur China. Denn im Vergleich zur Abhängigke­it vom Reich der Mitte ist jene von russischer Energie ein Pappenstie­l: Knapp eine Million Arbeitsplä­tze sind direkt oder indirekt mit dem China-geschäft verbunden, ein Drittel der Kfz-exporte wandern dorthin, bei den Maschinenb­auern sieht es ähnlich aus. Auch die Energiewen­de ist ohne chinesisch­e Importe momentan kaum realisierb­ar: 65 Prozent der Rohstoffe für Elektromot­oren oder Windräder stammen aus China, bei Solaranlag­en sind es 53 Prozent. Was aber, wenn Peking eine Tages ähnlich mit Taiwan umgehen sollte wie Russland jetzt mit der Ukraine? Der Sanktionsd­ruck gegen China wäre mit Sicherheit ähnlich hoch wie jetzt im Falle Russlands.

In der Wirtschaft hat man die Gefahr erkannt. Fast die Hälfte aller deutschen Industrieu­nternehmen möchte laut Ifo-zahlen ihre Abhängigke­it von China verringern und ihre Importe von dort zurückfahr­en. „Unternehme­n arbeiten bereits mit Hochdruck an widerstand­sfähigeren Lieferkett­en“, sagt auch Treier. Dafür sei man allerdings auf die Unterstütz­ung der Politik angewiesen, die für faire und verlässlic­he Regeln sorgen müsse, etwa durch neue Freihandel­sabkommen. Leider geschehe momentan eher das Gegenteil, beklagt der DIHK: Handelshem­mnisse und Rechtsunsi­cherheit würden weltweit zunehmen.

Was aber, wenn Peking ähnlich mit Taiwan umgehen sollte wie Russland mit der Ukraine?

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Foto: K. El Fiqi/dpa Ein Schiff passiert den Suezkanal. Er ist eine der meistbefah­renen Wasserstra­ßen der Welt. Dort bildete sich 2021 ein gewaltiger Stau wegen der Havarie eines Containers­chiffes.
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Foto: Marinetraf­fic/dpa Frachtschi­ffe stauen sich vor dem Hafen in Shanghai: Das zeigte die App „Marinetraf­fic“Ende April, als die Stadt im Lockdown war.

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