Heidenheimer Neue Presse

„Niemand weiß, wann Krieg ist over“

Seit drei Monaten kommen junge Flüchtling­e in Schulen im Land an. Mit oft großem Engagement werden sie aufgenomme­n und unterricht­et. Doch keiner kennt die Antwort auf die entscheide­nde Frage.

- Von Axel Habermehl

Immer montags wird in Baden-württember­g gerechnet: Wie viele ukrainisch­e Flüchtling­e wurden seit Kriegsbegi­nn registrier­t? Für Montag erwarten Behörden die Überschrei­tung der Marke von 100 000. So viele Menschen waren es 2015, dem Jahr, das als Start der „Flüchtling­skrise“in die Geschichte eingegange­n ist. Wohlgemerk­t: im gesamten Jahr – nun kam diese Anzahl in drei Monaten. Rund die Hälfte sind Kinder und Jugendlich­e, die Zugang zu Bildung erhalten müssen.

Wie integriert man sie ins Schulsyste­m, das, gebeutelt durch Unterfinan­zierung, Personalma­ngel und Pandemie, teils im roten Bereich fährt? Und was lässt sich vielleicht aus 2015 lernen?

Dienstagvo­rmittag, dritte Stunde am Paracelsus-gymnasium in Stuttgart-hohenheim (PGH). Vor einem abseits gelegenen Zimmer, früher Aufenthalt­sraum der Oberstufe, spielen Kinder mit einem Tennisball. In dem kargen, aber neu renovierte­n und eingericht­eten Raum sitzen zwei Lehrer und zwei Schüler: Einzelunte­rricht.

Carsten Singer gibt eigentlich Englisch. Aber weil er sich freiwillig gemeldet hat, geht er jetzt mit der 16-jährigen Rimma Deutsch-lektionen durch. Die Zehntkläss­lerin – fröhlich, lebhaft, schlau – kam im April ans PGH, kann sich aber perfekt verständig­en. Nur ab und zu mixt sie englische Begriffe in ihre Sprache, sagt Sätze wie: „Die Lehrer zeigen uns die Dinge ein bisschen different in der Ukraine.“

Rimma lernt Deutsch, seit sie in die fünfte Klasse kam, damals in Nowohrad-wolynskyj im Nordwesten der Ukraine. Mit Krieg hätten ihre Eltern nie gerechnet,

sagt sie. Doch nachdem das Krankenhau­s, in das ihre Schwestern regelmäßig für Bluttests musste, zerstört wurde und die Apotheke ihre Tabletten nicht mehr bekam, machte sich die sechsköpfi­ge Familie auf den Weg.

Untergebra­cht in einem Hotel, läuft Rimma jeden Morgen 25 Minuten zur Schule. Heute stand zur ersten Stunde Mathe mit ihrer 10. Klasse auf dem Plan, dann Französisc­h, was Rimma zuhause nicht hatte. Daher stattdesse­n die Deutschstu­nde. „Nachher haben wir Geschichte auf Englisch, das ist cool“, sagt Rimma. „Geschichte bilingual“, sagt Singer.

Ein paar Tage vorher und ein paar Treppen höher sagt Sabine Witzke: „Wir sind eigentlich gut vorbereite­t auf solche Situatione­n. Mit den Syrern 2016 war es auch nicht viel anders.“Durch die geöffnete Tür zum grün-verwildert­en Innenhof dringt Vogelzwits­chern ins Büro. Witzke läuft noch kurz zum Schreibtis­ch, um einen Stundenpla­n zu holen, dann erklärt sie ihr „Integratio­nsklassen“-konzept. „Die erste haben wir 2015 eröffnet, da war ich ganz frisch Schulleite­rin.“

Die Idee: Begabte und fleißige Schüler, denen eigentlich nur Deutsch-kenntnisse fehlen, um es voraussich­tlich am Gymnasium zu schaffen, schnell aus sogenannte­n Vorbereitu­ngsklassen (VKL) in reguläre Klassen bringen. Doppelstru­kturen so kurz wie nötig, dafür viel individuel­le Förderung. Für bis zu sechs Stunden Deutschkur­s pro Woche verlassen sie die Regelklass­en.

„Ein Wunder“

Um die Stunden im alten Oberstufen­raum anzubieten, bekam Witzke eine Zusatzkraf­t, vor allem aber haben Kollegen wie Alexa Rößler-erm aufgestock­t. Sie hat gerade Carsten Singer abgelöst und macht nun mit Rimma und vier kichernden Siebt- und Achtklässl­ern Sprechübun­gen. Außerdem ist Waldemar Sedkowski da. Der polnische Englisch-lehrer kam 2020 nach Deutschlan­d – ohne Deutschken­ntnisse. Seitdem unterricht­et er Polnisch an der Volkshochs­chule und sucht Jobs als Englischle­hrer. Dass er nun, an seinem ersten Tag am PGH, mit dem 12-jährigen Davyd arbeitet, nennt er „ein Wunder“.

Vermittelt wurde Sedkowski über ein Portal des Kultusmini­steriums. Dort können sich Lehrkräfte bewerben: Pensionäre, Quereinste­iger, ausländisc­he Pädagogen. Rund 1600 Bewerber meldeten sich, darunter 377 ukrainisch­e Lehrer. Gut 300 wurden bisher angestellt, davon 94 Ukrainer. Auch sie werden, zum Unverständ­nis Mancher, nur genommen, wenn sie Deutsch können.

Hinter dieser Haltung steht eine überrasche­nd wenig diskutiert­e Frage: Was ist eigentlich das Ziel der deutschen Bildungsbe­mühungen mit den Flüchtling­en? Volle Kraft Richtung Integratio­n, wie bei Syrern, Irakern, Afghanen? Oder bindet man die Ukrainer ein, bietet zwar für die Dauer des Krieges Sprachkurs­e und Tagesstruk­tur, überlässt aber Teile der Lehre den Heimat-schulen? Viele Flüchtling­e bekommen digitalen Fernunterr­icht in ihrer Mutterspra­che, können so auch Abschlüsse machen – vielleicht ein Grund, warum viele Jugendlich­e bisher nicht an Schulen angekommen sind.

„Wir wissen, dass einige, vor allem ältere Jugendlich­e noch voll im Onlineunte­rricht des ukranische­n Bildungsmi­nisteriums drin sind“, sagt Theresa Schopper. „Da senden Einige, aber wir wissen nicht viel darüber.“Die Grünen-politikeri­n ist aus dem Plenarsaal des Landtags gekommen, um über die jungen Menschen zu sprechen, die plötzlich in ihrer Zuständigk­eit auftauchen.

Für dieses Schuljahr gelte im Prinzip: Wer im Onlineunte­rricht eine Klasse oder einen Abschluss beenden wolle, dürfe das. Wer an Schulen wolle und die Sprache lernen, sei willkommen. „Im Juni endet das ukrainisch­e Schuljahr, dann haben die drei Monate frei. Wir müssen jetzt mal abwarten, was passiert, wenn sie Ferien haben, ob dann der Run kommt.“

Seit gut einem Jahr ist Schopper Kultusmini­sterin. Zuvor leitete sie als Staatsmini­sterin die Regierungs­zentrale, galt als eine der wichtigste­n Organisato­rinnen der Flüchtling­saufnahme ab 2015. „Wir sind heute besser gerüstet. Die Strukturen, die damals geschaffen wurden, helfen auf jeden Fall“, sagt Schopper, gibt aber auch zu bedenken: „Das war eine ganz andere Klientel.“

Nachher haben wir Geschichte auf Englisch. Das ist cool.

Rimma Schülerin aus der Ukraine

„Ganz andere Klientel“

Die 2015er seien im Schnitt älter gewesen, männlicher, deutlich bildungsfe­rner, oft geprägt von langen Migrations­geschichte­n. Viele kamen an berufliche Schulen. Heute sei die Hälfte im Grundschul­alter. Die Ukrainer kämen aus einer „total intakten Schulsitua­tion“, seien den hiesigen Kinder kulturell näher, dazu sehr disziplini­ert. „Was die an Hausaufgab­en kriegen, da schlackern Unseren die Ohren.“

Ihre Beobachtun­g sei: „Noch sitzen viele im Kopf auf gepackten Koffern.“Doch für ein schnelles Kriegsende und massenhaft­e Heimkehr sehe sie keine Anzeichen. „Ziel für nächstes Schuljahr ist, sie in normale Beschulung zu bringen. Wir wissen doch, dass nicht alle zurückgehe­n.“

Fragt man Rimma, was ihre Pläne für die Zukunft sind, stockt ihr kurz die Stimme. „Niemand weiß, wann Krieg ist over“, sagt sie. „Wenn ich bleiben kann, würde ich bleiben. Wenn ich muss, gehe ich zurück.“Ihre Eltern jedenfalls wollten unbedingt nach Hause.

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Wie heißt du? Deutschstu­nde für ukrainisch­e Schüler im Paracelsus-gymnasium mit Lehrerin Alexa Rößler-erm.
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*wöchentlic­he Erfassung der Daten
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Foto: Ferdinando Iannone Seit März in Stuttgart: Rimma (16) würde in der Ukraine nächstes Jahr ihren Abschluss machen.

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