Schütteln wieder erlaubt
Hände sind Meisterwerke der Evolution. In Corona-zeiten sind sie jedoch als Risikofaktoren für die Übertragung von Krankheiten in Verruf geraten. Ein Experte ist überzeugt: Das Begrüßungs-ritual kommt zurück.
Wir legen Wert auf einige soziale Gewohnheiten“, verkündete Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) 2017 in seinem umstrittenen Zehn-punkte-katalog zur deutschen Leitkultur. „Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand.“
So schnell kann eine Leitkultur überholt sein. In Zeiten der Corona-krise waren Hand-shakes verpönt. Das ändert sich gerade wieder. Sommerliches Wetter und zurückgehende Infektionszahlen signalisieren Entspannung. Familienfeiern, Konzerte, Theater und Kneipenbesuche sind wieder möglich. Bei der Begrüßung aber sind viele noch unsicher.
Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen-knigge-gesellschaft, Clemens Graf von Hoyos, ist sich allerdings sicher: Das Händeschütteln kommt zurück. Eine fast 2000 Jahre alte und tief verwurzelte Geste lasse sich nicht einfach durch zwei Jahre Pandemie abschalten, sagt Hoyos. Nach seinen Angaben diente die Geste frühen Christen als Zeichen der Verbundenheit. Im Mittelalter signalisierten die Menschen damit, dass sie unbewaffnet und deshalb friedlich gesinnt waren.
Ob die Deutschen sich schon jetzt wieder die Hände zur Begrüßung oder zum Abschied reichen sollten, ist nach Ansicht des Knigge-experten eine individuelle Entscheidung. „Wer sich wohl dabei fühlt, kann wieder seine Hand anbieten“, sagte er. „Wer sensibler ist, kann auch mit einer leichten Verbeugung, einem Kopfnicken, einem Lächeln oder einer Hand auf dem Herzen signalisieren: Ich sehe Dich.“Umgekehrt könne man eine angebotene Hand durchaus freundlich ablehnen und eine andere Geste anbieten. „Man kann ruhig Mut zu mehr Individualität haben.“
Fest steht: Corona hat den Blick auf Hände verändert. Geschätzte zehn Millionen potenziell krankheitserregende Mikroorganismen finden sich auf den Händen eines jeden Menschen. Bis zu 80 Prozent aller ansteckenden Krankheiten werden nach Angaben der Bundesagentur für gesundheitliche Aufklärung über die Hände übertragen.
Kein Wunder, denn Hände haben permanenten Kontakt zu Türklinken, Haltegriffen und Smartphone-displays. Berührt man mit ihnen dann das Gesicht, können die Erreger über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen. Richtiges Händewaschen unterbricht diesen Übertragungsweg.
Zugleich sind Hände Meisterwerke der Evolution. Mondbein, Kahnbein, Erbsenbein: Zwischen Daumen und kleinem Finger, Rücken und Teller der menschlichen Hand spannt sich eine verwirrende Landschaft von Muskeln, Sehnen und Bändern. Von den rund 210 Knochen, die den menschlichen Körper stützen, gehören allein 54 zu beiden Händen. Rund 40 Muskeln und an die 20 Scharnier-, Kugel-, Sattel- und Ei-gelenke treten in Aktion, wenn Babys greifen, Kinder einen Ball fangen, Bäcker Teig kneten oder Autofahrer wütend die Faust ballen. Hände lassen sich entlang von 22 Achsen bewegen.
Hände sind auch sensible Sinnesorgane: Sie ertasten Blindenschrift, können streicheln, segnen und heilen. Zehntausende von Tast-, Druck-, Schmerz- und Temperatursensoren – dazu allein 400 Schweißdrüsen pro Quadratzentimeter – stellen den Kontakt zur Umwelt her. „Wer eine Erdbeere abpflückt, weiß schon vorher instinktiv, wie schwer die Frucht ungefähr sein wird, und ob sie sich hart oder weich anfühlt“, beschreibt der Münsteraner Orthopäde Hans Henning Wetz das vielbeschworene Fingerspitzengefühl. Sonst würde er die sensible Frucht zerquetschen.
Auch in Sprachen und in der Kulturgeschichte der Menschheit hat sich die Bedeutung der Hand niedergeschlagen, schreibt Rolf-bernhard Essig in seinem Duden-bändchen „Redensarten von Kopf bis Fuß“. Wer alle Trümpfe in der Hand hält, kann gut verhandeln. Wer um die Hand eines anderen anhält, wird seine Hände auch für ihn ins Feuer legen. Und wer etwas in die Hand nimmt, hat hoffentlich nicht zwei linke Hände.
Jeder kann eine angebotene Hand ablehnen.