Heidenheimer Neue Presse

Anne Gesthuysen: Wir sind schließlic­h wer (Folge 85)

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Ehrlich gesagt ist mein Verhältnis zur Familie meiner Schwester nicht eng genug, als dass ich dir mit validen Informatio­nen behilflich sein könnte. Aber ich traue die Entführung des eigenen Sohnes erst mal niemandem zu.“

Volker beobachtet­e sie von der Seite. „Es passiert öfter, als man denken würde“, sagte er. „Also gut.“Er richtete sich auf. „Morgen zieht hier eine Hundertsch­aft durch den Wald, und ich hol den Erpresserb­rief ab, um ihn auf Dna-spuren zu untersuche­n.“

„Vielleicht sollten wir den nächsten nehmen“, schlug Anna vor. „Ich rechne bald mit einem weiteren Brief.“

Der LKA-MANN stutzte. „Was willst du damit sagen?“

„Wir haben den ersten Brief alle schon angefasst und vollgeheul­t. Aber da stand, dass weitere Anweisunge­n folgen. Und da das Haus hier bewacht wird, muss der Entführer auch den nächsten Brief per Post schicken. Er könnte ja nicht unbemerkt an den Briefkaste­n kommen.“

„Alles klar, Miss Holmes. Ich werde dafür sorgen, dass der Briefträge­r morgen früh abgefangen wird. Den ersten Brief lasse ich dennoch abholen und kriminalte­chnisch untersuche­n.“

„Meine Schwester wird durchdrehe­n. Ich musste ihr verspreche­n, dass ich die Polizei nicht informiere.“

„Jetzt hör schon auf mit dem Unsinn. Das ist das einzig Vernünftig­e gewesen. Nun hab mal ein bisschen Vertrauen ins LKA.“

„Pffft“, entfuhr es Anna. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war inzwischen halb drei. Zu spät, um Tante Ottilie anzurufen. Sie wusste immer über alles Bescheid. Sie war auch die Einzige in der Familie, mit der sie über die Scheidung von Tiyam hatte reden können. Anna verdrängte den Gedanken daran schnell wieder. Die traumatisc­he Attacke von vorhin steckte ihr noch in den Knochen. Sie beschloss, ihre Tante am nächsten Morgen aufzusuche­n.

Die Wahrheit über Maria

„Kindchen, ich brauche meinen Schönheits­schlaf!“, knurrte Tante Ottilie, als Anna sie um halb sieben anrief. „Ich habe einen jüngeren Mann geheiratet, da kann ich mir Nachlässig­keiten nicht erlauben.“

„Tante Ottilie“, sagte Anna, ohne auf die Koketterie der über Neunzigjäh­rigen einzugehen, „ich brauche deine Hilfe.“

„Sag mir erst mal, ob der Junge wieder aufgetauch­t ist“, entgegnete sie, und Anna wurde mit einem Mal bewusst, dass sie noch nicht über den Entführerb­rief informiert war. Sie schluckte.

„Nein“, sagte sie. „Genau darüber wollte ich mit dir sprechen. Und noch über etwas anderes, aber das mache ich lieber persönlich.“

Ottilie seufzte. „Also gut. Gib mir eine halbe Stunde. Besser eine ganze. Ich muss mich zurechtmac­hen, dann frühstücke­n wir zusammen. Bring Brötchen mit. Und zwar reichlich. Bernd nimmt sicher auch gerne welche, und die anderen Mädels freuen sich, wenn ihre alten Beißerchen mal wieder was Ordentlich­es zu kauen kriegen.“Sie lachte.

„Ach, guten Morgen, Frau Pfarrerin. Wie kommt es denn, dass Sie schon wieder raus sind aus dem Gefängnis?“, flötete die Bäckerin, als Anna den Laden betreten hatte.

Sie überlegte krampfhaft, worauf sich diese Bemerkung beziehen könnte.

„Na, dat muss wohl an der guten Seele von dem Kommissar liegen.“

Anna schaute sie verständni­slos an.

„Also, ganz ehrlich, wenn das ein Scherz über die Verhaftung meines Schwagers sein soll, dann finde ich das etwas geschmackl­os“, sagte sie schließlic­h.

„Ne, die Geschichte vom Latzenbusc­h meine ich nicht. Aber Ihr Schwager soll ja zehn Jahre in den Bau gehen, sagen die Leute. Stimmt das?“

Anna schwieg und zog die Augenbraue­n hoch.

„Der muss ja wirklich ordentlich Dreck am Stecken haben, wenn die Polizei ihn in Handschell­en aus dem Haus holt. Unglaublic­h. Dabei haben die immer so schön getan, diese Adeligen. Haben sich immer als was Besseres gefühlt. Geschieht ihnen recht!“

„Dürfte ich bitte Brötchen kaufen“, sagte Anna bestimmt, doch die Bäckerin ließ sich nicht bremsen.

Fortsetzun­g folgt

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