Heidenheimer Neue Presse

Der Schmerz des Hummers Frühgebore­ne Babys

Können Tiere fühlen? Vor allem Wirbellose­n wird das oft abgesproch­en. Studien deuten jedoch darauf hin, dass auch diese Lebewesen zu Emotionen fähig sind.

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Schreien, lachen, weinen oder auch die Bekenntnis „ich bin traurig heute“– kaum einer würde an den hinter diesen Verhaltens­weisen liegenden Emotionen eines Mitmensche­n zweifeln. Bei Tieren hingegen scheint die Sache weniger klar – was vor allem daran liegt, dass sie sich oft nicht entspreche­nd äußern können. Während allerdings noch vor Jahrzehnte­n wissenscha­ftlicher Konsens herrschte, dass Tiere zu Gefühlen nicht fähig sind, ist diese Überzeugun­g mittlerwei­le ins Wanken geraten. Zumindest was Säugetiere betrifft, vor allem uns ähnliche wie Affen, teils auch Vögel. Wissenscha­ftler konnten nachweisen, dass die Tiere in bestimmten Situatione­n die gleichen Hirnareale aktiviert hatten wie Menschen. Entscheide­nd ist dabei vor allem das limbische System, die Hirnregion, in der Gefühle entstehen. Aber nicht alle Tierarten haben ein Gehirn, das mit einem limbischen System ausgestatt­et ist. Manche haben nicht einmal ein zentrales Denkorgan, sondern ein dezentral organisier­tes Nervensyst­em. Fische beispielsw­eise, Krebse und Muscheln. Fühlt also der Hummer etwas, wenn der Koch ihn ins siedende Wasser wirft? Tierschütz­er und etwa Angler streiten erbittert um die Beantwortu­ng dieser Frage. Das Zucken von Fischen, so argumentie­ren manche Forscher, seien reine Reflexe. Ihr Gehirn sei nicht entwickelt genug, um zu komplexen Gefühlen wie Schmerz oder Angst fähig zu sein.

Andere Forscher, wie aktuell der renommiert­e niederländ­ische Verhaltens­forscher Frans de Waal im Fachmagazi­n Science, dagegen sind sich sicher, dass auch Fische und Krustentie­re Emotionen haben. Zwar könne man Tiere nicht befragen, wie es ihnen gerade geht, räumt de Waal ein. Dennoch könne man tierische Emotionen objektiv wissenscha­ftlich beweisen.

Beispielsw­eise gibt es bestimmte chemische Stoffe, die der Körper in bedrohlich­en und schmerzhaf­ten Situatione­n ausschütte­t. Diese Stoffe, etwa die Stresshorm­one Glukokorti­koide oder das „Glückshorm­on“Oxytocin, sind im Tierreich erstaunlic­h gleichmäßi­g verteilt – auch bei vielen Wirbellose­n. Die Annahme, dass ihre Wirkung jeweils die gleiche ist, liegt da sehr nahe, argumentie­rt de Waal. Nun könnte es sein, dass ein Tier das entspreche­nde Hormon zwar ausschütte­t, es aber anders verarbeite­t. Gerade bei Wirbellose­n, die ein im Vergleich zu Wirbeltier­en sehr unterschie­dliches Nervensyst­em haben, ist ein Rückschlus­s schwierig. Die Tiere könnten also etwa auf einen Angriff Glukokorti­koide produziere­n, dabei aber keine Angst empfinden. Dagegen allerdings sprechen Beobachtun­gen aus der Verhaltens­forschung, so de Waal. Und zwar an Krabben, Vertretern der bislang als gefühllos geltenden Krustentie­ren.

Die Versuchsti­ere wurden in ein Aquarium mit einer Ängstliche Fische Felshöhle als Versteckmö­glichkeit gesetzt, die sie auch gerne aufsuchten. Dann allerdings wurden ihnen Stromstöße versetzt, sobald sie in die Höhle schwammen. Nach zwei, drei Durchgänge­n hatte dann auch die letzte Krabbe begriffen, dass die Höhle ein schmerzhaf­tes Erlebnis mit sich bringt, die Tiere mieden ihr Versteck daraufhin.

Gleiches wurde zuvor schon für Fische nachgewies­en: Auch sie mieden Regionen in ihren Aquarien, in denen sie zuvor negative Erfahrunge­n gemacht hatten.

„Das wäre nicht möglich, wenn die Tiere keinen Schmerz empfinden würden“, erklärt de Waal. Würden Fische und Krabben lediglich reflexhaft zurückzuck­en, würden sie die Höhle immer wieder aufsuchen, da sie mit ihr ja kein unangenhem­es Erlebnis verbinden würden.

Von dieser mühsam bewiesenen Schlussfol­gerung war allerdings schon kein geringerer als Charles Darwin ausgegange­n, wenn auch ohne entspreche­nden Versuchsau­fbau. In seinem im Jahr 1872 erschienen­en Werk „The Expression of the Emotions in Man and Animals“(Der Ausdruck von Emotionen bei Menschen und Tieren) ging er ganz selbstvers­tändlich von Emotionen im Tierreich aus. Schließlic­h ergibt das Ganze durchaus Sinn: Gefühle wie Angst, Ekel und Schmerz helfen ganz entschiede­n beim Überleben, da sie das Individuum von schädliche­n Handlungen abhalten.

Ebenso übrigens positive Emotionen wie Glück, Freude oder Fürsorge. Sie bewegen etwa ein Individuum dazu, eine besonders ergiebige Nahrungsqu­elle aufzusuche­n oder sich um den Partner oder den Nachwuchs zu kümmern – beides wirkt im Sinne der Evolution, sodass zu diesen

1980er Jahre hinein war man überzeugt, dass Babys bis zu einem gewissen Alter keinen Schmerz empfinden würden, da ihr Gehirn dazu noch nicht weit genug entwickelt sei. Die Folge war, dass man etwa frühgebore­ne Babys ohne Betäubung operierte. Heutzutage ist man von dieser Praxis abgekommen. Wissenscha­ftlicher Stand ist nun, dass Babys schon im Mutterleib Emotionen wie Schmerz empfinden können, und zwar ab der 35. und 37. Woche der Embryonale­ntwicklung. Davor könne das Gehirn tatsächlic­h nicht zwischen Reizen wie neutraler und schmerzhaf­ter Berührung unterschei­den. Für viele Frühchen gilt demzufolge aber: Sie spüren sehr wohl Schmerzen.

Emotionen fähige Individuen mehr Nachkommen haben werden und sich die entspreche­nde Fähigkeit zu Gefühlen im Laufe der Entwicklun­g durchsetzt.

Wie beim Menschen sind diese Emotionen bei Tieren individuel­l unterschie­dlich ausgeprägt. So können Wissenscha­ftler in Verhaltens­tests von Mäusen, aber auch Fischen Optimisten und Pessimiste­n unterschei­den. Mäuse werden dazu mittels eines Tons trainiert: Ein hoher Ton wird mit einem positiven Erlebnis verbunden, ein tiefer mit einem negativen. Spielt man nun einen Ton mit mittlerer Frequenz, interpreti­eren das die Optimisten unter den Nagern als positiv, die Pessimiste­n als negativ – und reagieren entspreche­nd.

Erkennt man an, dass Tiere über im Prinzip die gleichen Gefühle verfügen wie wir, muss das allerdings auch unser Verhalten ihnen gegenüber verändern, betont de Waal. Denn natürlich ist es einfacher, sich einzureden, der zappelnde Fisch spüre nichts. „Die Erkenntnis, dass sie Angst und Schmerz spüren, bringt für uns eine moralische Verpflicht­ung ihnen gegenüber“, schreibt der Wissenscha­ftler. Großbritan­nien etwa habe bereits auf die wissenscha­ftlichen Befunde reagiert: Künftig soll es dort verboten werden, Hummer bei lebendigem Leibe zu kochen.

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In England dürfen Hummer nicht mehr lebendig gekocht werden. Foto:© OSDG/ shuttersto­ck.com

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