Seid endlich ehrlich!
Die deutsche Coronapolitik lässt sich derzeit mit dem sperrigen Wort Infektionsprävalenz zusammenfassen. Da das nur Mediziner verstehen, hat das Wort ein Synonym, das deutlich bekannter ist: Durchseuchung. In der Frühphase der Pandemie war es ein erster, wie sich herausstellen sollte wegweisender Erfolg für „Team Vorsicht“, genau davor zu warnen. Durchseuchung, da denkt man an Mittelalter, Pest, Pocken. Wer kann das schon wollen?
Doch wenn Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nun davor warnt, mit der Aufhebung der Isolationspflicht würde die Durchseuchung durch die Hintertür zugelassen, ist bereits die Prämisse falsch. Wir haben uns in Wahrheit schon längst für sie entschieden. Das zeigt das Verhalten von Bürgern und Politik während der Sommerwelle. Wir sprechen das nur nicht offen aus. Weil uns Politiker wie Karl Lauterbach seit zweieinhalb Jahren vor den katastrophalen Folgen einer Durchseuchung warnen.
Nun gehört es zur Wahrheit, dass es zu Beginn der Pandemie keine gute Strategie gewesen wäre, das Virus einfach durch eine Bevölkerung ohne jede Immunisierung durchlaufen zu lassen. Aber kluge Politik passt sich der Realität an. Knapp 31 Millionen per PCR-TEST nachgewiesene Infektionen, ergänzt um eine sehr hohe Dunkelziffer und mehr als 63 Millionen vollständig geimpfte Menschen, ergeben eine völlig andere Faktenlage als im Frühjahr 2020.
Diese sehr solide Grundimmunisierung erlaubt es uns, in der Pandemie erwachsen zu werden und ganz ohne schlechtes Gewissen zu unserem Verhalten zu stehen: Ja, wir lassen das Virus laufen. Weil wir es können – und sollten. Dazu gehört allerdings auch eine erwachsene politische Kommunikation.
Das Virus wird nicht mehr weggehen. Von dieser nicht zu leugnenden Feststellung abgeleitet, ergibt sich als beste Option, Sars-cov-2 wie die Influenza zu behandeln. Das bedeutet auch, die noch letzten Schritte zu gehen und auf Isolations- und Maskenpflicht zu verzichten. Wer krank ist, bleibt zu Hause. Wer sich mit Maske sicherer fühlt, trägt sie. So einfach könnte es sein.
Wäre da nicht die German Angst. Ein Blick über den Tellerrand zeigt, dass Deutschland mit seiner auf Restriktionen fokussierten politischen Kommunikation ein Pandemie-geisterfahrer ist. Frankreich, Niederlande,
Spanien, Großbritannien, Dänemark, Schweden, Österreich und viele mehr: Wir sind umzingelt von Ländern, die Corona wie die Grippe behandeln. Und wie Erwachsene offen darüber reden. Glauben wir ernsthaft, die Gefahr besser einschätzen zu können als all unsere europäischen Freunde?
Diese Schritte sind durch die Grundimmunisierung einerseits und die milde Omikron-variante andererseits möglich geworden. Falls BA.5 flächendeckend von einer deutlich tödlicheren Mutation abgelöst werden sollte – das ist sehr unwahrscheinlich – müsste man die Strategie erneut ändern. Dieser Schritt wäre dann aber viel glaubhafter, wenn wir bis dahin endlich aussprechen, was wir seit Monaten machen: Wir lassen das Virus laufen. Und das ist auch gut so.
Glauben wir ernsthaft, die Gefahr besser einschätzen zu können als all unsere europäischen Freunde?