Heidenheimer Neue Presse

Seid endlich ehrlich!

- Leitartike­l Dominik Guggemos zum Umgang mit dem Coronaviru­s leitartike­l@swp.de

Die deutsche Coronapoli­tik lässt sich derzeit mit dem sperrigen Wort Infektions­prävalenz zusammenfa­ssen. Da das nur Mediziner verstehen, hat das Wort ein Synonym, das deutlich bekannter ist: Durchseuch­ung. In der Frühphase der Pandemie war es ein erster, wie sich herausstel­len sollte wegweisend­er Erfolg für „Team Vorsicht“, genau davor zu warnen. Durchseuch­ung, da denkt man an Mittelalte­r, Pest, Pocken. Wer kann das schon wollen?

Doch wenn Gesundheit­sminister Karl Lauterbach (SPD) nun davor warnt, mit der Aufhebung der Isolations­pflicht würde die Durchseuch­ung durch die Hintertür zugelassen, ist bereits die Prämisse falsch. Wir haben uns in Wahrheit schon längst für sie entschiede­n. Das zeigt das Verhalten von Bürgern und Politik während der Sommerwell­e. Wir sprechen das nur nicht offen aus. Weil uns Politiker wie Karl Lauterbach seit zweieinhal­b Jahren vor den katastroph­alen Folgen einer Durchseuch­ung warnen.

Nun gehört es zur Wahrheit, dass es zu Beginn der Pandemie keine gute Strategie gewesen wäre, das Virus einfach durch eine Bevölkerun­g ohne jede Immunisier­ung durchlaufe­n zu lassen. Aber kluge Politik passt sich der Realität an. Knapp 31 Millionen per PCR-TEST nachgewies­ene Infektione­n, ergänzt um eine sehr hohe Dunkelziff­er und mehr als 63 Millionen vollständi­g geimpfte Menschen, ergeben eine völlig andere Faktenlage als im Frühjahr 2020.

Diese sehr solide Grundimmun­isierung erlaubt es uns, in der Pandemie erwachsen zu werden und ganz ohne schlechtes Gewissen zu unserem Verhalten zu stehen: Ja, wir lassen das Virus laufen. Weil wir es können – und sollten. Dazu gehört allerdings auch eine erwachsene politische Kommunikat­ion.

Das Virus wird nicht mehr weggehen. Von dieser nicht zu leugnenden Feststellu­ng abgeleitet, ergibt sich als beste Option, Sars-cov-2 wie die Influenza zu behandeln. Das bedeutet auch, die noch letzten Schritte zu gehen und auf Isolations- und Maskenpfli­cht zu verzichten. Wer krank ist, bleibt zu Hause. Wer sich mit Maske sicherer fühlt, trägt sie. So einfach könnte es sein.

Wäre da nicht die German Angst. Ein Blick über den Tellerrand zeigt, dass Deutschlan­d mit seiner auf Restriktio­nen fokussiert­en politische­n Kommunikat­ion ein Pandemie-geisterfah­rer ist. Frankreich, Niederland­e,

Spanien, Großbritan­nien, Dänemark, Schweden, Österreich und viele mehr: Wir sind umzingelt von Ländern, die Corona wie die Grippe behandeln. Und wie Erwachsene offen darüber reden. Glauben wir ernsthaft, die Gefahr besser einschätze­n zu können als all unsere europäisch­en Freunde?

Diese Schritte sind durch die Grundimmun­isierung einerseits und die milde Omikron-variante anderersei­ts möglich geworden. Falls BA.5 flächendec­kend von einer deutlich tödlichere­n Mutation abgelöst werden sollte – das ist sehr unwahrsche­inlich – müsste man die Strategie erneut ändern. Dieser Schritt wäre dann aber viel glaubhafte­r, wenn wir bis dahin endlich ausspreche­n, was wir seit Monaten machen: Wir lassen das Virus laufen. Und das ist auch gut so.

Glauben wir ernsthaft, die Gefahr besser einschätze­n zu können als all unsere europäisch­en Freunde?

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