„Ich halte Reisen für eine Menschenpflicht“
Durch die Digitalisierung haben viele die Neugier auf das Fremde verloren, sagt der Journalist und Autor. Ein Gespräch über herzliche Begegnungen in Alaska, das Hinterfragen eigener Moralvorstellungen und die Frage, was man tut, wenn man zwei Tage auf den
Christian Schüle ist oft auf Reisen, in manchen Jahren verbringt er viele Wochen, gar Monate in fremden Ländern. Reisen, sagt der Philosoph, Journalist und Autor, sei für ihn eine Menschenpflicht. Denn wer die Welt entdecken wolle, könne dabei auch sich selbst entdecken. Jetzt hat er das Buch „Vom Glück, unterwegs zu sein“veröffentlicht. Wir erreichen Schüle auf der griechischen Insel Naxos. Dort macht er im Moment Urlaub vom Reisen.
Herr Schüle, in Ihrem Buch kritisieren Sie, dass wir das wahre Reisen in der digitalisierten Welt aus den Augen verlieren. Warum?
Viele Menschen glauben, die Welt schon zu verstehen, indem sie sie mit zwei Klicks auf den Bildschirm zoomen. Sie haben die Neugier auf das Fremde verloren und schmoren im eigenen Saft. Aber das Wissen von anderen Kulturen – das kann man nur durch das Reisen gewinnen. Deswegen halte ich es in Zeiten, in denen sich die Nationen leider wieder voreinander verschließen, für eine Menschenpflicht, rauszugehen und zu gucken, wie es wirklich da draußen aussieht. Ich bin Teilnehmer der Globalisierung, also will ich auch wissen, was auf dem Globus vor sich geht.
Es heißt: Reisen bildet. Bedeutet das im Umkehrschluss: Wer zu Hause bleibt, ist dumm?
Nein, ich würde das nicht gegeneinander ausspielen, aber mir schenkt das Reisen eine Form von Selbsterkenntnis, die ich zu Hause nicht finde. Man verirrt sich, verläuft sich, sucht, scheitert und gerät auf Abwege. Und kann durch Zufall etwas finden, was man vorher gar nicht gesucht hat.
Wann begann Ihre Sehnsucht, so zu reisen, wie Sie es heute tun?
Schon als Kind. Durch die Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“wollte ich immer den Orient kennenlernen. Viele Jahre später habe ich mir den Traum erfüllt, indem ich nach Usbekistan auf die alte Seidenstraße gefahren bin. Das war zuerst ein bisschen enttäuschend, weil der postsowjetische Staat nicht nur Schönheit bereithielt.
Sie haben ein Buch mit dem Titel „Vom Glück, unterwegs zu sein“veröffentlicht. Sind Sie auf Reisen ein anderer Mensch als zuhause?
Ich werde zu einem anderen Menschen. Wenn ich unterwegs bin, muss ich akzeptieren, dass ich Sprachen nicht verstehe und merke dennoch, dass ich mich verständigen kann. Ich muss lernen zu fragen, zu vertrauen, mich zurechtzufinden. Außerdem gibt es noch den Aspekt der Moral: Ich bin für bedingungslose Gleichberechtigung der Geschlechter, aber dann besuchte ich in Äthiopien Stämme, in denen Frauen bis heute beschnitten werden. Ich versuchte, mit Hilfe eines Übersetzers den Ältesten des Stammes zu erläutern, dass eine Beschneidung eine grobe Verletzung des Menschenrechts auf Unversehrtheit ist. Sie verstanden aber gar nicht, worüber ich sprechen wollte. Dadurch kam ich einerseits an die Grenzen meiner Moral, andererseits musste ich lernen, dass meine eurozentrischen Vorstellungen von Moral und Ethik in anderen Bereichen der Welt nicht geteilt werden. Meine Lehre daraus war, dass man trotzdem versuchen muss, die anderen Kulturen, die anderen Menschen wertzuschätzen und zu respektieren.
Wie verständigen Sie sich?
Ich spreche gut Englisch und relativ gut Französisch. In Äthiopien brauchte ich aber einen Übersetzer, weil die Stämme dort verschiedene Dialekte haben. Da muss man sich jemanden suchen, der vertrauenswürdig genug ist, dass er richtig übersetzt. So jemanden zu finden, dauert manchmal lange.
Sie waren bis 2005 als Redakteur und Reporter bei der „Zeit“angestellt. Dann haben Sie den Job geschmissen. Wollten Sie reisen?
Ich habe freiwillig gekündigt, weil ich Bücher schreiben wollte. Tatsächlich bin ich aber gleich auf Reisen gegangen und war sehr viele Wochen in der Türkei. Darüber habe ich eines meiner ersten Bücher geschrieben. Ich bin zufrieden damit, jetzt ein freier Vogel zu sein. Wenn es auch wirtschaftlich nicht immer einfach ist.
Wie viel Zeit des Jahres sind Sie auf Reisen?
Manchmal die Hälfte des Jahres. Ich war und bin ja auch beruflich auf Reisen, etwa für Zeitschriften wie Geo, National Geographic oder Mare.
Auf Ihren Reisen passiert oft Unerwartetes. Einmal mussten Sie zwei Tage auf einen Bus warten. Wie haben Sie das ausgehalten?
Das ist gar nicht so einfach, weil ich, wie vermutlich die meisten Leute in Deutschland, schnell getaktet bin. Durch Zufall geriet ich dann aber in eine Situation, in der ich mit meinen Pünktlichkeitsvorstellungen nicht weiterkam. In Guatemala wartete ich in einem Dorf auf den Bus. Der Ticketverkäufer sagte, dass er in einer Stunde komme. Danach hieß es in zwei Stunden. Schließlich musste ich zwei Tage ausharren. Aber in diesen Tagen habe ich zwei der wunderbarsten Erlebnisse meines Lebens gehabt. Ich bin nachts den Vulkanrücken des San Pedro Vulkans am Atitlánsee hochmarschiert und habe dort oben morgens um sieben den schönsten Sonnenaufgang meines Lebens gesehen.
Und das zweite Erlebnis?
Ich war nicht allein, sondern hatte einen über 70 Jahre alten Bergführer. Er trug kaputte Lederlatschen und war zwei Köpfe kleiner als ich. Ich dachte: Wie will der kleine, alte Mann mich da hochbringen? Aber es kam völlig anders. Alle hundert Meter blieb er stehen, um geduldig auf mich zu warten. Ich war völlig kaputt. Das wird mir zeitlebens eine Lehre sein: nie wieder den Respekt vor alten Menschen verlieren!
Und Ihr Fazit nach diesen zwei Tagen?
Meine Erfahrung ist, dass es Zeit braucht, sich auf Reisen sinnlich überwältigen zu lassen. Deswegen besteht für mich der größte Luxus des Lebens nicht in der Verschwendung von Geld, sondern in der Verschwendung von Zeit. Ein wunderbarerer Gegenspieler von Zeit ist für mich der Zufall. Durch Zufall bin ich schon mit völlig Fremden ins Gespräch gekommen oder wurde unverhofft Gast eines rauschenden Festmahls. Der Gastfreundschaft wird übrigens fast überall auf der Welt ein sehr hoher Wert beigemessen. Ich finde das sehr tröstlich und vorbildlich.
Was lernt man noch, wenn man reist wie Sie?
Ich bin ein unruhiger Mensch. Ich mag’s gerne schnell. Gelassenheit habe ich erst durch das Reisen gelernt. Wenn ich mich unterwegs dem Unbekannten aussetzte, hatte ich oft keine andere Wahl, als gelassen darauf zu warten, was passiert. So etwas schult die bewusste Wahrnehmung.
Sie schreiben: „Reisen ist für mich die beste Art und Weise, sich in der Welt selbst aufzuspüren“…
Ich reise, um mir selbst auf die Schliche zu kommen. Man lernt eben sehr viel mehr über sich selber, wenn man in die Welt hinaus geht. Man kann die Welt nicht beurteilen, wenn man sie nicht kennt und man kann sie auch nicht bewerten, bevor man sie nicht durch Busse, mit Booten oder auch mit dem Fahrrad im Sinne des Wortes: erfahren hat. Eine wichtige Erfahrung ist die Erkenntnis der eigenen Fremdheit. Auf meinen Reisen spüre ich immer, was es bedeutet, fremd zu sein. Im Idealfall ist das die beste Schule gegen Stereotype und Fremdenfeindlichkeit.
Sie werden auf Reisen angesprochen, zum Essen eingeladen, beherbergt — strahlen Sie etwas Besonderes aus, dass Menschen auf Sie zugehen?
Ich bin ein sehr offener Mensch. Vielleicht merkt man das. Eine Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass es in allen Kulturen dieser Welt hauptsächlich um die gleichen Fragen geht: Ist man verheiratet? Liebt man seine Frau? An welchen Gott glaubt man? Glaubt man überhaupt? Und: Was isst man gerne?
Gibt es eine Begegnung, die besonders haften geblieben ist?
Das war auf einer Reise durch Alaska. Mit einem Truck bin ich von Fairbanks nach Deadhorse ans Polarmeer gefahren. Der Fahrer war 70 Jahre alt und hieß Dave. Im Laufe der Tour erzählte er mir von seinem Sohn, der bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen war. Wir sprachen über Gott und Vorbestimmung. Am Ende des Tages meinte er, dass er in mir die Wiederkehr seines Sohnes erkenne, dem ich offensichtlich ähnelte. Er hat mich quasi als seinen Sohn adoptiert, und ich hatte nach zwei Tagen Alaska einen rührenden Adoptivvater.
Auch eine andere Reise führte Sie hoch in den Norden, diesmal nach Norwegen. Dort erlebten Sie eine Stille, die etwas Bedrohliches hatte …
Ich lief auf dem Olavsweg. Das ist heute ein Pilgerweg auf den Spuren des ehemaligen Königs Olav, der den Weg mehrfach gegangen sein soll und später zu einem christlichen Heiligen erklärt worden war. Ich versuchte, auf diesem Olavsweg, sozusagen mein Ich zu erpilgern. Wer bin ich eigentlich? Mit dieser Frage im Hinterkopf ging ich los, und am Ende hatte ich zwar nicht wirklich fertige Antworten, aber mehrere Glücksmomente. Einer war auf dem Dovrefjell, einem Bergzug mitten in Norwegen. Ich stand oberhalb der Baumgrenze, vollkommen alleine. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich die Erfahrung einer totalen Stille machte. Erst war es wunderbar, aber nach kurzer Zeit merkte ich, dass diese Stille mir fast die Luft zum Atmen nahm. Ich bekam Platzangst. Stille kann also auch beklemmend sein. Eine merkwürdige Erkenntnis. Und das ist ein Punkt, der auf Reisen eine große Rolle spielt: dass die eigene Wahrnehmung sensibilisiert wird. Wie froh war ich, als ich wieder ein Autogeräusch und das Glockenklingeln einer kleinen Ziege hörte.
Wie suchen Sie sich Ihre Reiseziele aus?
Ich habe eine Liste mit Zielen im Kopf, zu denen ich unbedingt noch will. Zum Beispiel nach Georgien. Fragen Sie mich nicht warum. Außerdem will ich schon lange nach Kanada. Den Yukon mit dem Kanu runterfahren. Wenn ich das nötige Geld zusammen habe, breche ich auf, schmeiße mich rein ins Abenteuer und schaue, was passiert.
Klimafreundlich sind Ihre Reisen aber nicht…
Schwieriges Thema, ja. Ich kann alle Argumente diesbezüglich nachempfinden. Wer reist, hat bezüglich CO2 meist einen schlechten Fußabdruck, weil er den Klimawandel weiter forciert. Dazu kommt, dass man als Reisender in Länder eindringt, die unter Mülllawinen und Massentourismus leiden. Ich habe Orte erlebt, die vorne an der Küste wunderschön aussahen, aber in der dritten Straße dahinter total verfallen waren, wo Alkoholismus und Arbeitslosigkeit herrschten. Trotzdem, meine ich, soll man in diese Länder reisen. Denn für jedes Stückchen Zwischenmenschlichkeit, das man dort erfahren kann, lohnt es sich. Jede Neugier auf das Fremde und Andere kann die Welt ein bisschen retten, so pathetisch das klingen mag.
Ich bin ein unruhiger Mensch. Ich mag’s gerne schnell. Gelassenheit habe ich erst durch das Reisen gelernt.
Für mich besteht der größte Luxus nicht in der Verschwendung von Geld, sondern in der Verschwendung von Zeit.