Heidenheimer Neue Presse

„Pure Verzweiflu­ng“

Es fehlt an Lehrern, der Unterricht fällt teils im großen Stil aus. Besonders groß ist die Not im Bereich Sonderpäda­gogik.

- Von Axel Habermehl

Vanessa Steiss weiß nicht, wie sie das schaffen soll. Ihr Sohn Levi (6) wird nach den Sommerferi­en eingeschul­t. Eigentlich ein Grund zur Freude. Doch nun hat Steiss erfahren, dass wegen Lehrermang­els der komplette Nachmittag­sunterrich­t ausfällt: Die Kinder sollen nur 28 statt 34 Wochenstun­den erhalten.

„Am Ende des Tages ist es pure Verzweiflu­ng“, sagt Steiss. Am meisten ärgert sie, dass ihrem Sohn Bildung verwehrt werden soll, die ihm zustehe. Außerdem muss sie beruflich reagieren. „Für uns als Familie ist das nicht einfach so zu stemmen. Ich werde wohl meinen Arbeitsver­trag ändern müssen und weniger Stunden machen.“Glückliche­rweise mache ihr Arbeitgebe­r das mit. „Bei der aktuellen Wirtschaft­slage: Wir brauchen das zweite Einkommen und ich glaube, das geht vielen Familien so.“

Der Fachkräfte­mangel gilt als größtes Problem des Bildungssy­stems. In Baden-württember­g fehlen tausende Pädagogen, bundesweit hunderttau­sende. Die Lage droht sich in den kommenden Jahren zu verschärfe­n.

Der Mangel betrifft Kitas, Schulen, sogar Hochschule­n. „Die Frage des Personalbe­darfs ist eine der drängendst­en“, sagte der Direktor des Leibniz-instituts für Bildungsfo­rschung und Bildungsin­formation, Kai Maaz, dieses Jahr bei der Vorstellun­g des Nationalen Bildungsbe­richts.

Die Folge an Schulen ist Unterricht­sausfall. Besonders groß ist die Not im Bereich Sonderpäda­gogik. Das betrifft Levi, der das Down-syndrom hat. Das Kultusmini­sterium hatte den Mangel schon 2019 abgesehen: In der Sonderpäda­gogik sei „bis zum Jahr 2024 mit einem Neubewerbe­rmangel von kumuliert 650 Personen zu rechnen, bevor 2025 und 2026 Angebot und Bedarf weitgehend übereinsti­mmen“, hieß es in einer Lehrerbeda­rfsberechn­ung. Ob es so kommt, bleibt abzuwarten. Neuere Prognosen des Statistisc­hen Landesamts sagen voraus, dass die Zahl der Sbbz-schüler bis 2030 von 37 000 auf 39 800 steigen soll.

Nach Abschluss der regulären Einstellun­gsrunde und mit Blick auf das anstehende Schuljahr spricht die Gewerkscha­ft GEW von „oft verheerend­en Zuständen“in der Sonderpäda­gogik. Nur in der Rheinschie­ne seien die freien Stellen besetzt worden, heißt es in einem Artikel der Gewerkscha­ftszeitung

„bildung und wissenscha­ft“. „Durch die fehlenden Lehrer*innen an den SBBZ und in der Inklusion werden sich die Bildungsch­ancen von Kindern und Jugendlich­en mit Behinderun­g in Baden-württember­g massiv verschlech­tern.“

Was das konkret heißt, wird Levi ab Herbst auf seinem SBBZ in Reutlingen erleben. Die Familie hat einen sehr guten Eindruck von der Schule. Doch dann kam die Mail der Schulleitu­ng, deren Botschaft schon vorher, nach einer Versammlun­g mit Eltern- und Schulamtsv­ertretern, durchgesic­kert war: „Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass die Peter-rosegger-schule durch die desolate Lehrervers­orgung des Landes im kommenden Schuljahr nicht den kompletten Wochenunte­rricht anbieten kann“, heißt es da. Man sei „zu einer „drastische­n Stundenred­uzierung gezwungen“.

In den Klassen 1 bis 7 soll an zwei Wochentage­n um 12.30 Uhr Schluss sein, an den drei übrigen mit Mittagesse­n um 13.30 Uhr. Steiss war von sechs Stunden mehr ausgegange­n. „Umgerechne­t fällt da ein ganzer Schultag weg“, sagt sie. Auch andere Eltern sind verzweifel­t. Elternvert­reterin Julia Strieder etwa hatte gerade eine Woche vor der Versammlun­g ihre Arbeitszei­t erhöht.

Den Mangel verwalten

Eine Anfrage dieser Zeitung an die Schulleitu­ng blieb unbeantwor­tet. Das Staatliche Schulamt Tübingen bestätigt die Abläufe. „Wir verwalten den Mangel“, sagt der Schulamtsd­irektor Martin Schüler. Im Sbbz-bereich stiegen die Schülerzah­len massiv, auch durch Ukraine-flüchtling­e. Die Rosegger-schule habe letztes Schuljahr 164 Schüler gehabt, im Herbst seien es wohl 202. Pensionäre blieben unersetzt, es fielen Schwangere aus.

Zahlen zur Lehrervers­orgung dürfe er nicht nennen, noch seien auch nicht alle Einstellun­gsverfahre­n abgeschlos­sen. Man versuche, Nachrücker zu finden und Betreuungs­angebote für einen Teil der betroffene­n Schüler zu organisier­en.

Steiss sagt, sie mache weder der Schulleitu­ng noch dem Amt einen Vorwurf. „Die können sich auch keine Lehrer schnitzen.“Aber dass die Politik gerade einen Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung ab 2026 beschlosse­n hat, macht sie fassungslo­s. „Das System steht doch kurz vor dem Zusammenbr­uch.“

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Foto: Marina Klöss Ihrem Sohn Levi werde ihm zustehende Bildung verwehrt, ärgert sich Vanessa Steiss.

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