Norm ist weiterhin der Mann
Wenn es um die Erkennung und Behandlung von Krankheiten geht, dient ein Durchschnittsmensch als Modell – und der ist keine Frau. Nun soll sich in Deutschland daran etwas ändern.
Frauen verdienen im Schnitt weniger als Männer, sie haben andere medizinische Bedürfnisse als Männer und ihre Körper sind Teil des politischen Diskurses. Rund um den Frauentag am 8. März wollen wir frauenspezifische Themen beleuchten. Heute: weibliche Gesundheit.
Die Medizin wird weiblich, heißt es seit einigen Jahren. Gemeint ist damit, dass junge Frauen mit ihren häufig sehr guten Abiturnoten zwei Drittel der raren Medizinstudienplätze ergattern. Schon heute ist fast jeder zweite Mediziner weiblich – 1991 hatte der Anteil der Ärztinnen erst ein Drittel betragen. Im ambulanten Bereich, so die Stiftung Gesundheit, waren 2022 zum allerersten Mal in Deutschland mehr Ärztinnen als Ärzte tätig.
Was damit bisher zumeist nicht gemeint ist: Dass sich die Sicht auf die Frau als Patientin geändert hat. Dabei ist schon seit Jahren erwiesen – Frauen sind keine zehn Kilo leichteren Männer, die man in Praxis und Klinik genauso wie jeden Mann behandeln sollte. Klar ist, dass die gleiche Krankheit bei Frauen und Männern unterschiedliche Verläufe zeigen kann. Und das muss man in Forschung und Behandlung berücksichtigen.
So weist Ute Seeland von der Berliner Charité, die sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt, darauf hin, dass Frauen bei bestimmten Medikamenten mehr Nebenwirkungen zeigen. Das liege an der Dosierung, die sich häufig am männlichen Geschlecht orientiere. Zwar würden, anders als lange Zeit üblich, mittlerweile Frauen in die Zulassungsstudien
einbezogen, zu oft aber nur zu einem kleinen Teil. Und vor allem: Die dort gewonnenen Daten würden nicht getrennt nach Geschlechtern ausgewertet. Männer und Frauen würden also „in einen Topf geworfen“. In der Folge erhalten Frauen häufig eine Überdosis.
Ein klassisches Beispiel ist der Herzinfarkt. Brustschmerzen sind typisch für Männer. Frauen dagegen klagen eher über Übelkeit, Atemnot, Schmerzen zwischen den Schulterblättern. Folge sind Fehldiagnosen, die dramatisch sein können – die Sterblichkeit bei Frauen nach einem Herzinfarkt ist höher. Aber es gibt auch ganz andere Beispiele. So trauen viele Mediziner Frauen kein starkes Schnarchen zu, das zu Atemaussetzern führt. Stellen sich die erschöpften Patientinnen vor, wird schnell eine Depression diagnostiziert. Bei der Wirbelsäulenerkrankung Morbus Bechterew ist in Lehrbüchern zumeist ein Mann mit rundem Rücken abgebildet. Frauen dagegen laufen länger gerade, haben aber gewaltige Rückenschmerzen.
Die Gesundheitspolitikerin Saskia Weishaupt (Grüne) beklagt denn auch: „Lange galt der männliche Körper als Norm in der Medizin, mit teils verheerenden Folgen für Frauen. Noch immer werden Daten von Frauen und Männern nicht ausreichend differenziert betrachtet und Krankheiten, die hauptsächlich Frauen betreffen, sind schlecht erforscht.“Und ihre Kollegin Christine Aschenberg-dugnus (FDP) kritisiert, dass beim Erstellen einer Diagnose „die krankheitsspezifischen Symptome häufig auf männlichen Krankheitshistorien beruhen“. Frauen seien „unterrepräsentiert in wissenschaftlichen Studien“. Aber selbst von dem, was man über Geschlechter-unterschiede wisse, das stellt Ute Seeland bei Weiterbildungsveranstaltungen für Ärzte fest, sei erst „erstaunlich wenig“bei den Medizinern angekommen.
Etwas dagegen tun will die Universität Bielefeld. Die hat seit 2021 eine Professur für geschlechtersensible Medizin, Gendermedizin genannt. Sabine Oertelt-prigione ist die bundesweit erste Professorin und will Ärzten bei der individuellen Diagnose und Behandlung helfen. „Geschlechtersensible Medizin berücksichtigt, dass Frauen, Männer und andere Geschlechter unterschiedlich von Erkrankungen betroffen sein können – sowohl wegen biologischer Ursachen als auch wegen unterschiedlicher Verhaltensweisen und Unterschieden im Zugang zur Gesundheitsversorgung.“Medizinstudenten in Bielefeld werden von Anfang an entsprechend geschult.
Alle können profitieren
Von Gendermedizin können auch Männer profitieren. Vermeintlich weibliche Krankheiten wie Depressionen, Osteoporose und Brustkrebs werden bei ihnen häufig erst spät erkannt. Für Fdp-politikerin Christine AschenbergDugnus jedenfalls ist die Bielefelder Professur ein Beispiel für erste Erfolge an deutschen Hochschulen. Die Ampel wolle, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, dafür sorgen, dass „die Gendermedizin flächendeckend ein fester Bestandteil des Medizinstudiums, aber auch von Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe“wird.