Land am Abgrund
Im kleinen Inselstaat haben bewaffnete Banden in weiten Teilen die Macht an sich gerissen. Dagegen soll nun ein neuer Übergangsrat vorgehen. Doch hat er die Power, sich Schwerkriminellen entgegenzustellen? Einblicke in ein Land, in dem die Not seit Jahrze
Er zeigt sich gern mit Maschinengewehr und Barett-mütze. Jimmy „Barbecue“Cherizier ist der prominenteste Bandenchef in Haiti. Der 46-Jährige war – so melden es lokale Medien – einst ein Offizier der haitianischen Nationalpolizei. Die Uno wirft ihm vor, an mehreren Massakern beteiligt gewesen zu sein. Um seinen Spitznamen „Barbecue“ranken sich Legenden, eine davon besagt, dass er seine Rivalen und Gegner gerne abfackelt, doch dieser Version widerspricht der Bandenchef. Stattdessen soll der Spitzname wegen seiner Liebe zu Grillhähnchen am Verkaufsstand seiner Mutter entstanden sein.
So oder so: Mit dem Rücktritt von Haitis umstrittenem Interimspräsidenten Ariel Henry vor einigen Wochen hat „Barbecue“den Machtkampf gegen den maroden Rechtsstaat zunächst für sich entschieden. Chaos und Gewalt regieren den gefallenen Karibikstaat, der kein effektives Justizsystem hat und in dem das Gesundheitssystem quasi zusammengebrochen ist. In das Führungsvakuum stoßen die bewaffneten Banden, die nach Angaben lokaler Menschenrechtsorganisationen inzwischen 80 Prozent der Hauptstadt kontrollieren. Jeder Schritt auf die Straße kann für die Menschen dort tödlich enden. Zehntausende sind zuletzt aus der Hauptstadt Port-auprince geflohen.
Ein Übergangspräsidialrat soll nun die Ordnung im Land wiederherstellen. Der Rat, dem Vertreter aus Politik, Zivilgesellschaft und religiösen Organisationen angehören, soll freie Wahlen in Haiti vorbereiten. Die sind seit 2021, als Staatspräsident Jovenel Moise ermordet wurde, überfällig. Nach der politischen Neuordnung soll dann eine internationale Polizeimission, maßgeblich zusammengesetzt aus Sicherheitskräften aus Kenia, das Land stabilisieren. Ob es dazu kommen wird, ist jedoch ungewiss. Denn „Barbecue“hat wenig Interesse an stabilen Verhältnissen. Alles, was dem Ausbau seiner Macht entgegensteht, bekämpft er mit brutaler Gewalt.
Der Bandenchef gibt sich großspurig. Sollten sich „sexuelle Übergriffe und der Ausbruch der tödlichen Cholera wie in der Vergangenheit wiederholen“, würden er und seine Leute „bis zum letzten Atemzug gegen sie kämpfen“. Er spielt damit auf ein weiteres dunkles Kapitel des Landes an: Mitarbeitern ausländischer Hilfsorganisationen war vor Jahren sexueller Missbrauch vorgeworfen worden, chilenischen Un-soldaten die Verbreitung von Cholera im Land. Dass auch seine Banden massive sexuelle Gewalt ausüben, verschweigt er.
„Haiti ist kein gescheiterter Staat, sondern ein Mafiastaat“, sagt Soraya Jurado, Haiti-referentin des kirchlichen Lateinamerika-hilfswerks Adveniat. Die Rede vom „Failed State“machten sich die kriminellen Banden zunutze, um das Land zu destabilisieren und die Macht insbesondere in Port-au-prince an sich zu reißen. „Hinter den Banden stecken reiche, einflussreiche, international vernetzte Familien. Das erklärt auch, warum die Kriminellen besser ausgestattet sind als Polizei und Militär und sich die Gunst der Menschen in einzelnen Vierteln mit Lebensmittelpaketen sowie Geschenken sichern können“, so Jurado. Ohne ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft sei ein Ende der Gewalt und der Machtkämpfe nicht abzusehen.
Gelegentlich gibt es einige wenige, die sich der Gewalt entgegenstellen. Dazu zählt die Katholische Kirche, die nun selbst Ziel von Anschlägen und Entführungen wird. Als Bischof Pierre-andré Dumas vor wenigen Wochen Port-auprince besuchte, explodierte ein Sprengsatz in seiner Nähe. Der Bischof wurde schwer verletzt. Dumas hatte in der Vergangenheit die von den Banden praktizierten Entführungen als „abscheulichen und barbarischen Akt“verurteilt und bei mehreren Gelegenheiten ein Ende „dieser verabscheuungswürdigen und kriminellen Praktiken“gefordert. Andere Kirchenvertreter berichteten: „Seit vier Jahren erlebt unser Land eine der längsten und tödlichsten sozio- und sicherheitspolitischen Krisen seiner Geschichte. Das ganze Volk, das ganze Land, ist zutiefst betroffen. Der Staat hat die Kontrolle über das Staatsgebiet verloren.“Die Banden werteten das als Angriff auf ihre Macht. Bischof Dumas bekam die Quittung in Form einer Bombe.
Nach Angaben der Uno sind seit Anfang dieses Jahres bereits mehr als 1100 Menschen von Banden getötet und fast 700 weitere verletzt worden. Fast 13 000 Menschen wurden zwischen Januar 2022 und Anfang März 2024 von kriminellen Gruppen ermordet, verletzt oder entführt. Tausende Frauen und Kinder wurden Opfer sexueller Gewalt, viele anschließend weggeworfen wie Müll. Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist die wohl schlimmste Seite der Anarchie in Haiti. Mehr als 362 000 Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben. Viele Kinder gehen nicht zur Schule, nicht wenige werden von den Gangs rekrutiert. Für die Kinder ist das oft die einzige Perspektive. Doch mit jeder Anwerbung verlagert sich die Macht mehr Richtung Banden und weg vom Staat.
Im Inselstaat gilt jetzt erst einmal die Stunde Null. Guyanas Präsident Mohamed Irfaan Ali, amtierender Vorsitzender der Karibischen Gemeinschaft (Caricom), hat nach einem Haiti-krisengipfel in Jamaika den Rücktritt von Premierminister Ariel Henry „zur Kenntnis“genommen. Die Banden hatten Haitis Regierungschef während einer Auslandsvisite die Rückkehr in sein Land verwehrt. Henry hatte kurz davor in Kenia ein Abkommen über eine Hilfsmission abgeschlossen.
Ob es jetzt einen Neuanfang gibt oder einen endgültigen Zusammenbruch, hängt auch davon ab, ob die Vereinten Nationen und die vielen Nichtregierungsorganisationen einen besseren Job machen als nach dem Erdbeben 2010, bei dem 250 000 Menschen ums Leben gekommen waren. Damals strömte viel Geld ins Land. Allein Deutschland gewährte seither 200 Millionen Euro Entwicklungshilfe. Doch den Vertretern der internationalen Gemeinschaft wurde vorgeworfen, über die Köpfe der Haitianer hinweg zu entscheiden. Dabei hatte der damalige Un-generalsekretär Ban Ki-moon betont: „Wir müssen ein besseres Haiti schaffen, in dem nicht die meisten Menschen in Armut leben und keine Chance auf Bildung haben. Wir haben einen konkreten Plan für den Wiederaufbau, und dieser Plan trägt eine haitianische Handschrift.“Die vollmundige Ansage blieb unerfüllt.
Nathalye Cotrino, Krisen- und Konfliktforscherin bei Human Rights Watch, erklärt zur Lage im Inselstaat: „Angesichts der Tatsache, dass Haiti an der
Haiti ist kein gescheiterter Staat, sondern ein Mafiastaat. Soraya Jurado
Referentin bei Adveniat
Schwelle zu noch größerem Chaos und Gewalt steht, ist es für regionale und internationale Partner dringender denn je, die Forderungen der Haitianer nach einer auf Rechten basierenden internationalen Reaktion zu unterstützen, die alle Aspekte der Krise berücksichtigt.“Dazu sollte eine internationale Unterstützungsmission gehören, die die Menschenrechte hochhält, sowie eine Übergangsregierung, die mit unterschiedlichen Partnern zusammenarbeiten kann, um die grundlegende Sicherheit, eine demokratische Regierungsführung, den Zugang zu lebensnotwendigen Gütern und die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen.
Ob das mit dem neuen Übergangspräsidialrat gelingt, ist offen. Das neue Gremium hat nach Angaben von Caricom ein Mandat für 22 Monate. Es soll einen Interims-premierminister bestimmen, der die Regierungsgeschäfte übergangsweiswe leitet und das Polizeiwesen und das Justizsystem stärkt.
Eine entscheidende Rolle beim Neustart kommt wohl auch den Vereinten Nationen zu, die allerdings in Haiti wegen der Cholera-epidemie keinen guten Ruf genießen. „Die Uno bräuchte in Haiti eigentlich einen Neuanfang, denn was die Vereinten Nationen normalerweise in einem solchen Krisenfall leisten, können wir humanitären Organisationen nicht kompensieren“, sagte der Mediziner Tankred Stöbe von „Ärzte ohne Grenzen“der Zeitung Die Welt. Fast die Hälfte der Bevölkerung, rund 4,9 Millionen Menschen, hat laut Uno nicht genug zu essen.
Eine Luftbrücke für Hungernde
Angesichts der katastrophalen humanitären Lage richtet die Uno nach eigenen Angaben eine Luftbrücke aus der Dominikanischen Republik, dem Nachbarland, ein. Über diese soll Haiti mit Hilfsgütern versorgt und die Mobilität des Un-personals gewährleistet werden. Klappt das, wäre das ein Grundstein zur Vertrauensbildung.
Der Rest der Welt setzt sich derweil ab vom Inselstaat. Die Amerikaner schicken Marines, um die Us-botschaft zu sichern. Deutschlands Botschafter brachte sich mit den Entsandten der Eu-delegation angesichts der Gewaltexplosion erst einmal in der Dominikanischen Republik in Sicherheit. „Sie arbeiten bis auf Weiteres von dort aus“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes.
Haiti gilt als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Einst zahlte das Land den französischen Kolonialherren Millionen für die Unabhängigkeit. Der Inselstaat wird zudem immer wieder von schweren Naturkatastrophen erschüttert. All das ist der Nährboden, auf dem Menschen wie „Barbecue“und ihre Banden gedeihen. Diese Fehlentwicklung zu korrigieren, wird eine Herkulesaufgabe. Doch ein weiteres Scheitern darf sich der Rest der Welt nicht erlauben.