Assistent im Aktendickicht
Die komplexen Ansprüche der Rechtsprechung überfordern Künstliche Intelligenz, zumindest bisher. Manche Anwendungen können Bürger, Anwälte und Gerichte zwar durchaus unterstützen – Urteile werden aber weiterhin von Menschen gefällt.
Justitia wird meist mit einer Augenbinde dargestellt. Sie entscheidet ohne Ansehen der Person, soll das bedeuten. Warum aber nimmt man nicht gleich einen Computer als Richter? Könnte ein Robo-richter nicht völlig unvoreingenommen einfach nur das Gesetz anwenden? Beide Seiten geben ihre Argumente ein und auf Knopfdruck wird das Urteil ausgedruckt?
Dagegen spricht zunächst das Grundgesetz. „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut“, heißt es in Artikel 92. Damit sind menschliche Richter gemeint, keine digitale Künstliche Intelligenz (KI). Aber die KI ist auch technisch längst nicht in der Lage, menschliche Juristen zu ersetzen.
Wer die populäre Ki-anwendung CHATGPT schon einmal ausprobiert hat, kennt das Dilemma: Mal bekommt man auf Anhieb präzise Lösungen, dann wieder völligen Unsinn. Die künstliche Intelligenz lernt auf faszinierende, meist kaum nachvollziehbare Weise, aber sie macht dabei viele Fehler. Soll CHATGPT ein Urteil schreiben, kann es sein, dass es auf Grundsatzentscheidungen anderer Gerichte verweist, die es gar nicht gibt. CHATGPT erfindet entsprechende Urteile mitunter einfach, inklusive Aktenzeichen (s. Box auf dieser Seite).
Die Qualität einer KI hängt auch davon ab, mit welchen Daten sie trainiert wurde. CHATGPT basiert auf einem großen Sprachmodell, wurde aber nicht speziell mit juristischen Daten gefüttert. Bessere Lösungen wären also möglich, wenn eine Ki-anwendung das gesamte Recht kennen würde und auch alle Gerichtsurteile. Doch hier zeigt sich in Deutschland das nächste Problem: Maximal ein Prozent der deutschen Gerichtsurteile sind derzeit über Datenbanken verfügbar. Die Richter veröffentlichen Urteile, die sie für besonders interessant oder innovativ halten. Eine KI bräuchte zum Lernen aber gerade die langweiligen 0815-Normalfälle.
Außerdem muss ein Gericht nicht nur das Recht richtig anwenden, es muss auch den Sachverhalt in Einzelfall möglichst korrekt feststellen. Und die Frage, was wirklich passiert ist, kann sehr umstritten sein – sowohl im Straf- als auch im Zivilrecht. Deshalb werden vor Gericht Zeugen angehört und Gutachten ausgewertet. Die unabhängigen Richter müssen dann entscheiden, welche Version eher stimmt. Mit solchen Aufgaben wird KI noch lange überfordert sein, da sind sich die Experten einig.
Auch hat Künstliche Intelligenz kein Gefühl dafür, was im konkreten Rechtsstreit eine gerechte, angemessene und verhältnismäßige Lösung ist. KI sucht nach Mustern und Wahrscheinlichkeiten, die oft zusammenpassen, manchmal aber eben auch nicht. KI ist nicht einmal unvoreingenommen, sondern reproduziert gelegentlich auch Vorurteile, je nachdem, von wem sie mit welchem Material gespeist wurde. Zum Beispiel nahm das USProgramm Compas zur Prognose der Rückfallwahrscheinlichkeit von Straftätern bei Schwarzen höhere Rückfallquoten an als empirisch belegt waren.
Wohl noch für lange Zeit ist es deshalb in Deutschland ausgeschlossen, juristische Entscheidungen an Ki-anwendungen zu delegieren. Sie können allenfalls genutzt werden, Wahrscheinlichkeiten festzustellen. So könnte ein Anwalt auf dieser Grundlage einem Klienten zur Klage raten – oder eben nicht. Und eine Rechtsschutzversicherung könnte anhand solcher Wahrscheinlichkeiten überlegen, ob sie die Finanzierung einer Klage übernimmt oder ob die Erfolgsaussichten zu gering sind.
Ansonsten wird Künstliche Intelligenz in nächster Zeit im Rechtswesen vor allem als Assistenzsystem dienen. Anwaltskanzleien und Inkasso-dienstleister etwa können damit Massenverfahren effizienter abwickeln. Ob manipulierte Abgaswerte bei Dieselfahrzeugen oder Entschädigung von Passagieren bei Flugverspätungen: Es genügt, die Daten des Einzelfalls einzugeben, die Software produziert daraus den passenden und ausführlich begründeten Antrag. Für die Bürger kann das vorteilhaft sein, sie haben weniger Aufwand und finden leichter Anwälte und Dienstleister, die sich effizient und engagiert um ihre Ansprüche kümmern. Allerdings kann dieser Effizienzgewinn für die Gerichte zum Problem werden – manche ertrinken bereits in Massenverfahren.
Doch auch auf Seiten der Justiz wurde aufgerüstet. Mit Hilfe von KI steigern jetzt die Gerichte ihrerseits die Effizienz. So hilft das Programm „Olga“(Abkürzung für „Oberlandesgerichtsassistent“) dem Oberlandesgericht Stuttgart bei der Bearbeitung von Klagen, die Besitzer von Dieselfahrzeugen wegen mutmaßlich manipulierter Schadstoffangaben eingereicht haben. Aus den langen Schriftsätzen
der Anwälte findet „Olga“in Sekundenschnelle die entscheidenden Daten heraus. Und am Amtsgericht Frankfurt/ Main unterstützt das Programm „Frauke“(„Frankfurter Urteils-konfigurator elektronisch“) die Richter bei der Bearbeitung von Fluggastklagen.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hält mit Hilfe Künstlicher Intelligenz eine Effzienzsteigerung von 25 Prozent im Rechtswesen für möglich. Idealerweise könnte der Effizienzgewinn bei der Aktenbearbeitung am Ende den Bürgern zugute kommen. Zum Beispiel, indem Richter sich in einer Verhandlung mehr Zeit als bisher nehmen können, um ihre Maßstäbe und Überlegungen bei der Urteilsfindung zu erklären.
„Baden-württemberg ist beim Einsatz Künstlicher Intelligenz in der Justiz bundesweit Vorreiter“, sagt Landesjustizministerin Marion Gentges (CDU). So wird am Landgericht Mannheim das Programm „Jano“erprobt, das zusammen mit Hessen entwickelt wurde. „Jano“hilft, Urteile zu anonymisieren, bevor diese an die Presse oder an Datenbanken gehen. Am Landgericht Hechingen wird das Programm „Astra“getestet, das elektronische Akten strukturiert, was insbesondere in komplexen Verfahren hilfreich ist.
Stolz ist Gentges auf ein Projekt, das Baden-württemberg im Auftrag aller Bundesländer realisiert. Eine Ki-plattform soll mit standardisierten technischen Schnittstellen und einheitlichen rechtlichen Vorgaben wie ein App-store für die Justizverwaltungen der Bundesländer funktionieren. Sobald ein Land KIJustiz-anwendungen entwickelt hat, so das Ziel, sollen alle anderen Länder nach dem Grundsatz „Einer für alle“ebenfalls davon profitieren. „Wir werden aber auch in Zukunft auf menschengemachte Justiz setzen“, verspricht die Ministerin.
Künstliche Intelligenz hat kein Gefühl dafür, was in einem Rechtsstreit eine gerechte und angemessene Lösung ist.