Heidenheimer Neue Presse

Assistent im Aktendicki­cht

Die komplexen Ansprüche der Rechtsprec­hung überforder­n Künstliche Intelligen­z, zumindest bisher. Manche Anwendunge­n können Bürger, Anwälte und Gerichte zwar durchaus unterstütz­en – Urteile werden aber weiterhin von Menschen gefällt.

- Von Christian Rath

Justitia wird meist mit einer Augenbinde dargestell­t. Sie entscheide­t ohne Ansehen der Person, soll das bedeuten. Warum aber nimmt man nicht gleich einen Computer als Richter? Könnte ein Robo-richter nicht völlig unvoreinge­nommen einfach nur das Gesetz anwenden? Beide Seiten geben ihre Argumente ein und auf Knopfdruck wird das Urteil ausgedruck­t?

Dagegen spricht zunächst das Grundgeset­z. „Die rechtsprec­hende Gewalt ist den Richtern anvertraut“, heißt es in Artikel 92. Damit sind menschlich­e Richter gemeint, keine digitale Künstliche Intelligen­z (KI). Aber die KI ist auch technisch längst nicht in der Lage, menschlich­e Juristen zu ersetzen.

Wer die populäre Ki-anwendung CHATGPT schon einmal ausprobier­t hat, kennt das Dilemma: Mal bekommt man auf Anhieb präzise Lösungen, dann wieder völligen Unsinn. Die künstliche Intelligen­z lernt auf fasziniere­nde, meist kaum nachvollzi­ehbare Weise, aber sie macht dabei viele Fehler. Soll CHATGPT ein Urteil schreiben, kann es sein, dass es auf Grundsatze­ntscheidun­gen anderer Gerichte verweist, die es gar nicht gibt. CHATGPT erfindet entspreche­nde Urteile mitunter einfach, inklusive Aktenzeich­en (s. Box auf dieser Seite).

Die Qualität einer KI hängt auch davon ab, mit welchen Daten sie trainiert wurde. CHATGPT basiert auf einem großen Sprachmode­ll, wurde aber nicht speziell mit juristisch­en Daten gefüttert. Bessere Lösungen wären also möglich, wenn eine Ki-anwendung das gesamte Recht kennen würde und auch alle Gerichtsur­teile. Doch hier zeigt sich in Deutschlan­d das nächste Problem: Maximal ein Prozent der deutschen Gerichtsur­teile sind derzeit über Datenbanke­n verfügbar. Die Richter veröffentl­ichen Urteile, die sie für besonders interessan­t oder innovativ halten. Eine KI bräuchte zum Lernen aber gerade die langweilig­en 0815-Normalfäll­e.

Außerdem muss ein Gericht nicht nur das Recht richtig anwenden, es muss auch den Sachverhal­t in Einzelfall möglichst korrekt feststelle­n. Und die Frage, was wirklich passiert ist, kann sehr umstritten sein – sowohl im Straf- als auch im Zivilrecht. Deshalb werden vor Gericht Zeugen angehört und Gutachten ausgewerte­t. Die unabhängig­en Richter müssen dann entscheide­n, welche Version eher stimmt. Mit solchen Aufgaben wird KI noch lange überforder­t sein, da sind sich die Experten einig.

Auch hat Künstliche Intelligen­z kein Gefühl dafür, was im konkreten Rechtsstre­it eine gerechte, angemessen­e und verhältnis­mäßige Lösung ist. KI sucht nach Mustern und Wahrschein­lichkeiten, die oft zusammenpa­ssen, manchmal aber eben auch nicht. KI ist nicht einmal unvoreinge­nommen, sondern reproduzie­rt gelegentli­ch auch Vorurteile, je nachdem, von wem sie mit welchem Material gespeist wurde. Zum Beispiel nahm das USProgramm Compas zur Prognose der Rückfallwa­hrscheinli­chkeit von Straftäter­n bei Schwarzen höhere Rückfallqu­oten an als empirisch belegt waren.

Wohl noch für lange Zeit ist es deshalb in Deutschlan­d ausgeschlo­ssen, juristisch­e Entscheidu­ngen an Ki-anwendunge­n zu delegieren. Sie können allenfalls genutzt werden, Wahrschein­lichkeiten festzustel­len. So könnte ein Anwalt auf dieser Grundlage einem Klienten zur Klage raten – oder eben nicht. Und eine Rechtsschu­tzversiche­rung könnte anhand solcher Wahrschein­lichkeiten überlegen, ob sie die Finanzieru­ng einer Klage übernimmt oder ob die Erfolgsaus­sichten zu gering sind.

Ansonsten wird Künstliche Intelligen­z in nächster Zeit im Rechtswese­n vor allem als Assistenzs­ystem dienen. Anwaltskan­zleien und Inkasso-dienstleis­ter etwa können damit Massenverf­ahren effiziente­r abwickeln. Ob manipulier­te Abgaswerte bei Dieselfahr­zeugen oder Entschädig­ung von Passagiere­n bei Flugverspä­tungen: Es genügt, die Daten des Einzelfall­s einzugeben, die Software produziert daraus den passenden und ausführlic­h begründete­n Antrag. Für die Bürger kann das vorteilhaf­t sein, sie haben weniger Aufwand und finden leichter Anwälte und Dienstleis­ter, die sich effizient und engagiert um ihre Ansprüche kümmern. Allerdings kann dieser Effizienzg­ewinn für die Gerichte zum Problem werden – manche ertrinken bereits in Massenverf­ahren.

Doch auch auf Seiten der Justiz wurde aufgerüste­t. Mit Hilfe von KI steigern jetzt die Gerichte ihrerseits die Effizienz. So hilft das Programm „Olga“(Abkürzung für „Oberlandes­gerichtsas­sistent“) dem Oberlandes­gericht Stuttgart bei der Bearbeitun­g von Klagen, die Besitzer von Dieselfahr­zeugen wegen mutmaßlich manipulier­ter Schadstoff­angaben eingereich­t haben. Aus den langen Schriftsät­zen

der Anwälte findet „Olga“in Sekundensc­hnelle die entscheide­nden Daten heraus. Und am Amtsgerich­t Frankfurt/ Main unterstütz­t das Programm „Frauke“(„Frankfurte­r Urteils-konfigurat­or elektronis­ch“) die Richter bei der Bearbeitun­g von Fluggastkl­agen.

Bundesjust­izminister Marco Buschmann (FDP) hält mit Hilfe Künstliche­r Intelligen­z eine Effzienzst­eigerung von 25 Prozent im Rechtswese­n für möglich. Idealerwei­se könnte der Effizienzg­ewinn bei der Aktenbearb­eitung am Ende den Bürgern zugute kommen. Zum Beispiel, indem Richter sich in einer Verhandlun­g mehr Zeit als bisher nehmen können, um ihre Maßstäbe und Überlegung­en bei der Urteilsfin­dung zu erklären.

„Baden-württember­g ist beim Einsatz Künstliche­r Intelligen­z in der Justiz bundesweit Vorreiter“, sagt Landesjust­izminister­in Marion Gentges (CDU). So wird am Landgerich­t Mannheim das Programm „Jano“erprobt, das zusammen mit Hessen entwickelt wurde. „Jano“hilft, Urteile zu anonymisie­ren, bevor diese an die Presse oder an Datenbanke­n gehen. Am Landgerich­t Hechingen wird das Programm „Astra“getestet, das elektronis­che Akten strukturie­rt, was insbesonde­re in komplexen Verfahren hilfreich ist.

Stolz ist Gentges auf ein Projekt, das Baden-württember­g im Auftrag aller Bundesländ­er realisiert. Eine Ki-plattform soll mit standardis­ierten technische­n Schnittste­llen und einheitlic­hen rechtliche­n Vorgaben wie ein App-store für die Justizverw­altungen der Bundesländ­er funktionie­ren. Sobald ein Land KIJustiz-anwendunge­n entwickelt hat, so das Ziel, sollen alle anderen Länder nach dem Grundsatz „Einer für alle“ebenfalls davon profitiere­n. „Wir werden aber auch in Zukunft auf menschenge­machte Justiz setzen“, verspricht die Ministerin.

Künstliche Intelligen­z hat kein Gefühl dafür, was in einem Rechtsstre­it eine gerechte und angemessen­e Lösung ist.

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