Heidenheimer Neue Presse

Lindner pokert hoch

- Leitartike­l Igor Steinle zur FDP und ihrem Parteitag

Ein Hauch von Bonn liegt über der Berliner Republik. Wiederholt sich die Geschichte und verlässt die FDP wie 1982 die soziallibe­ralgrüne Koalition? Das 12-Punkte-papier, das die FDP jüngst verabschie­dete, wurde vielfach so interpreti­ert: Als neues Lambsdorff-papier, das mit wirtschaft­sliberalen Forderunge­n an SPD und Grüne die Scheidung provoziere­n soll.

Seitdem wird in der FDP beschwicht­igt und zurückgeru­dert: So sei es nicht gemeint, man müsse vor dem Parteitag an diesem Samstag einfach mal die liberale Seele streicheln, wie es übrigens die anderen Parteien auch tun. Und außerdem: Man habe doch gerade erst aufgeatmet, dass ein Parteibesc­hluss für einen Ampelausst­ieg abgewehrt werden konnte. Gleichzeit­ig wird aber betont, dass die Forderunge­n das wirtschaft­lich Notwendige darstellte­n und man sie deshalb natürlich auch umsetzen will.

Tatsächlic­h sollte man in der schnellleb­igen Welt der Politik meist keine große Strategie vermuten, wenn die eigentlich­e Erklärung so viel näher liegt: Wahlen stehen an, die FDP befindet sich in der demoskopis­chen Todeszone und sucht einen Weg zurück ans Licht.

Den will sie beschreite­n, indem sie sich auf ihren Wesenskern besinnt: den der Klientelpa­rtei für den wirtschaft­lichen Mittelstan­d, vom Handwerker über den Selbständi­gen bis hin zur Führungskr­aft, die sich zuletzt von den Freidemokr­aten abgewandt haben. Mit ihrem Kreuz bei der FDP 2021 hatten sie sich eigentlich etwas anderes versproche­n als Cannabis-legalisier­ung und Selbstbest­immungsges­etz. Dementspre­chend war dem Parteitag ein kommunikat­ives Dauersperr­feuer vorausgega­ngen: keine Kamera, kein Mikrofon, kein Notizblock, dem die in den vergangene­n Wochen nicht mindestens ein Spitzenlib­eraler „Wirtschaft­swende, Wirtschaft­swende“zugerufen hätte.

Zumal die ökonomisch­e Notwendigk­eit von Strukturre­formen allen (außer dem Kanzler) bewusst ist. Mit dem zu erwartende­n geringen Wachstum in den kommenden Jahren wird das Land weder die Bundeswehr ertüchtige­n noch die Klimawende stemmen können. Und tatsächlic­h enthält das Fdp-papier Vorschläge, die das Land wirtschaft­lich wieder voran

Wahlen stehen an, die FDP sucht aus der demoskopis­chen Todeszone einen Weg zurück ans Licht.

bringen könnten. Ob sie aber in einer Koalition mit Grünen und SPD auch nur ansatzweis­e so umgesetzt werden können, dass sie dem Notwendige­n entspreche­n, darf erfahrungs­gemäß bezweifelt werden. Insofern ist die Gefahr eines vorzeitige­n Scheiterns der Ampel durchaus gegeben, auch wenn dies derzeit niemand konkret beabsichti­gt – allein schon weil Parteichef Christian Lindner dafür viel zu gerne Finanzmini­ster ist.

In den anstehende­n Haushaltsv­erhandlung­en muss ein gesichtswa­hrender Kompromiss gefunden werden. Lindner pokert jetzt schon hoch und kokettiert damit, dass die FDP bereits bewiesen habe, dass sie „für ihre Überzeugun­gen eine Regierung verlässt und ins Unbekannte springt“. Nicht auszuschli­eßen, dass er sich mit solchen Drohungen verzockt. Will er nicht seine Glaubwürdi­gkeit verlieren, muss er vielleicht irgendwann beweisen, dass er nicht blufft.

leitartike­l@swp.de

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