Heidenheimer Neue Presse

Angst vor der großen Leere

Viele Menschen sehnen die Rente herbei, aber nicht alle. Einige Ruheständl­er suchen sinnstifte­nde Aufgaben – bisweilen brauchen sie dabei Hilfe.

- Von Dorothee Torebko und Jacqueline Westermann der 65- bis 69-Jährigen in Deutschlan­d gehen einer bezahlten Tätigkeit nach, meist in geringfügi­gen Beschäftig­ungen.

Fast 20 Jahre war Frank Meyer (Name geändert) Führungskr­aft, verantwort­lich für eine Abteilung mit 70 Mitarbeite­rn, sein Rat war stets gefragt. Mit Anfang 60 ging er in Rente, so war es in seinem Arbeitsver­trag festgelegt. Doch schon Jahre vor dem Renteneint­ritt fing das Grübeln an. „Was habe ich dann eigentlich noch zu sagen, werde ich nur zu Hause sitzen – und was passiert ohne tägliche Wertschätz­ung?“, fragte er sich.

Als Berater tätig werden wollte Meyer nicht. Seine Tochter haute schließlic­h auf den Tisch und sagte: „Mecker nicht, du hast doch jetzt Zeit. Nutze sie!“Genau das tat der Wirtschaft­sprüfer: Er engagiert sich nun beim Ortsverban­d der Grünen, hält dreimal im Semester an einer Universitä­t Vorlesunge­n und kümmert sich um sein Enkelkind.

Wie Meyer geht es vielen Arbeitskrä­ften in Deutschlan­d. Das Phänomen, das er erlebte, heißt „Empty Desk Syndrom“, die Angst vor dem leeren Schreibtis­ch. Der Begriff steht symbolisch für die Probleme, die entstehen können, wenn Menschen in den Ruhestand gehen. Studien zufolge haben etwa 20 bis 25 Prozent der Betroffene­n teilweise Schwierigk­eiten, sich an die neue Lebensphas­e anzupassen.

Das Phänomen könnte sich ausweiten. Denn in den kommenden Jahren gehen die „Babyboomer“in Rente, die bekannt sind für ihre hohe Arbeitsmor­al und ihren Fleiß. Zugleich sind sie, die geburtenst­arken Jahrgänge der späten 1950er und frühen 1960er Jahre, die erste Nachkriegs­generation, die fit bis ins hohe Alter ist und teils mit einer vergleichs­weise hohen Rente wirtschaft­en können.

„Der Übergang in eine neue Lebensphas­e ist eigentlich immer mit einem Gefühl von Unsicherhe­it verbunden“, erklärt die Bremer Soziologie-professori­n Simone Scherger. Zwar überwiege bei den meisten die Freude mit Blick auf die Rente, aber: „Für viele in unserer Gesellscha­ft ist Erwerbsarb­eit

immer noch die zentrale Quelle für Alltagsstr­uktur, Status, Kontakte und Sinn.“Mit dem Eintritt in den Ruhestand gehe das ganz oder teilweise verloren – und so sei es nicht überrasche­nd, warum viele genau deswegen länger arbeiteten. Für andere ist es mitunter nicht freiwillig: Sie wollen ihre Renteneink­ommen aufbessern oder sich weiter einen guten Lebensstan­dard leisten.

Manfred Mager gehört zur ersten Gruppe. Der 69-Jährige arbeitet nach seinem Renteneint­ritt noch weiter – als Minijobber bei Deutschlan­ds größtem kommunalen Klinikkonz­ern. Dort ist er fünf Stunden pro Woche für die Netzwerkin­tegration von Röntgen-großgeräte­n zuständig. Er macht das nicht wegen des Geldes, sagt er, sondern aus Liebe zum Beruf. In 37 Jahren im Betrieb hat er sich immer mehr Wissen angeeignet, in der Radiologie und Computerto­mographie gearbeitet, war Strahlensc­hutzbeauft­ragter. „Ich wollte dieses Wissen nicht einfach brachliege­n lassen, sondern weitergebe­n und nutzen“, erläutert er.

„Umdenken setzt ein“

Mager ist einer von 19 Prozent der Menschen im Alter von 65 und 69 Jahren, die einer bezahlten Tätigkeit nachgehen, meist sind es geringfügi­ge Beschäftig­ungen. Doch was im Berliner Klinikkonz­ern geht, ist längst nicht überall möglich. Bei den Arbeitgebe­rn brauche es mehr Bereitscha­ft, geeignete Arbeitsplä­tze anzubieten, falls Rentnerinn­en oder Rentner weiterarbe­iten wollten, erläutert Scherger. „Da setzt aber schon langsam ein Umdenken ein.“Auch verhindert­en noch einige Klauseln in Tarifvertr­ägen längeres Arbeiten für diejenigen Kräfte, die das wollen.

Wie Unternehme­n Beschäftig­te beim Renteneint­ritt unterstütz­en können, weiß Christian Hartmann. Er berät Betriebe, aber auch Neurentner in der Übergangsp­hase. „Schaffen es Unternehme­n, einen wertschätz­enden Abschied zu gestalten, bleiben die Beschäftig­ten ihnen im besten Fall als Mentoren erhalten oder schicken ihre Enkel vielleicht irgendwann in den Betrieb“, sagt der Coach. Er schlägt Firmen vor, mit den Neurentner­n ins Gespräch zu gehen. „Die Unternehme­n könnten Checkliste­n erstellen mit Fragen wie: „Was wünschst du dir für deinen Abschied? Was kommt sozialvers­icherungst­echnisch jetzt auf dich zu? Möchtest du dein Diensthand­y behalten?“

Doch auch Neurentner können sich vorbereite­n. Hartmann coacht Führungskr­äfte im gehobenen Management, die sich zwei, drei Jahre vor dem Renteneint­ritt für den Lebensabsc­hnitt wappnen. Dort fragt er zunächst, ob es aufgeschob­ene Träume gibt – eine Weltreise zum Beispiel oder eine Tour mit dem Wohnmobil durch Skandinavi­en. Schließlic­h gehe es aber auch um die Frage, wo Talente eingebrach­t werden könnten. Zusammen mit den Klienten begibt er sich anschließe­nd auf die Suche nach Aufgaben. „Man sollte jedoch nicht den Fehler machen, sich den Tag vollzuklat­schen. Es geht nicht darum, Zeit zu füllen. Die Aufgaben sollten Spaß machen.“

„Die Politik könnte etwas besser über Optionen wie Teilrente oder Rentenaufs­chub informiere­n“, sagt Scherger. „Es gibt ziemlich gute Regeln, die Flexibilit­ät ermögliche­n. Doch sie werden zu wenig genutzt.“Die rentenpoli­tische Sprecherin der Spd-fraktion, Tanja Machalet, betont, dass die Politik dafür sorgen müsse, „dass sich Renten und Löhne nicht entkoppeln und die Altersvers­orgung in Deutschlan­d zum Lebensunte­rhalt ausreicht“. Wer arbeiten wolle, solle das tun. „Keinesfall­s“jedoch dürfe Arbeit im Rentenalte­r eine Pflicht sein.

Manfred Mager hat sechs Jahre länger gearbeitet als eigentlich nötig. Doch in diesem Jahr hört er endgültig auf. „Langweilig wird mir nicht. Ich habe viele Hobbys wie Rennradfah­ren, spiele in einer Trommelban­d und Tischtenni­s. Außerdem habe ich zwei Enkelkinde­r, um die ich mich nun mehr kümmern kann“, sagt der Berliner. „Irgendwann muss man einen Schlussstr­ich ziehen.“

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Foto: ©Bgstock72/adobe.stock.com Fällt die geregelte Erwerbsarb­eit im Ruhestand weg, muss der Alltag neu strukturie­rt und mit Sinn gefüllt werden. Angehende Rentner können sich darauf vorbereite­n.

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