Angst vor der großen Leere
Viele Menschen sehnen die Rente herbei, aber nicht alle. Einige Ruheständler suchen sinnstiftende Aufgaben – bisweilen brauchen sie dabei Hilfe.
Fast 20 Jahre war Frank Meyer (Name geändert) Führungskraft, verantwortlich für eine Abteilung mit 70 Mitarbeitern, sein Rat war stets gefragt. Mit Anfang 60 ging er in Rente, so war es in seinem Arbeitsvertrag festgelegt. Doch schon Jahre vor dem Renteneintritt fing das Grübeln an. „Was habe ich dann eigentlich noch zu sagen, werde ich nur zu Hause sitzen – und was passiert ohne tägliche Wertschätzung?“, fragte er sich.
Als Berater tätig werden wollte Meyer nicht. Seine Tochter haute schließlich auf den Tisch und sagte: „Mecker nicht, du hast doch jetzt Zeit. Nutze sie!“Genau das tat der Wirtschaftsprüfer: Er engagiert sich nun beim Ortsverband der Grünen, hält dreimal im Semester an einer Universität Vorlesungen und kümmert sich um sein Enkelkind.
Wie Meyer geht es vielen Arbeitskräften in Deutschland. Das Phänomen, das er erlebte, heißt „Empty Desk Syndrom“, die Angst vor dem leeren Schreibtisch. Der Begriff steht symbolisch für die Probleme, die entstehen können, wenn Menschen in den Ruhestand gehen. Studien zufolge haben etwa 20 bis 25 Prozent der Betroffenen teilweise Schwierigkeiten, sich an die neue Lebensphase anzupassen.
Das Phänomen könnte sich ausweiten. Denn in den kommenden Jahren gehen die „Babyboomer“in Rente, die bekannt sind für ihre hohe Arbeitsmoral und ihren Fleiß. Zugleich sind sie, die geburtenstarken Jahrgänge der späten 1950er und frühen 1960er Jahre, die erste Nachkriegsgeneration, die fit bis ins hohe Alter ist und teils mit einer vergleichsweise hohen Rente wirtschaften können.
„Der Übergang in eine neue Lebensphase ist eigentlich immer mit einem Gefühl von Unsicherheit verbunden“, erklärt die Bremer Soziologie-professorin Simone Scherger. Zwar überwiege bei den meisten die Freude mit Blick auf die Rente, aber: „Für viele in unserer Gesellschaft ist Erwerbsarbeit
immer noch die zentrale Quelle für Alltagsstruktur, Status, Kontakte und Sinn.“Mit dem Eintritt in den Ruhestand gehe das ganz oder teilweise verloren – und so sei es nicht überraschend, warum viele genau deswegen länger arbeiteten. Für andere ist es mitunter nicht freiwillig: Sie wollen ihre Renteneinkommen aufbessern oder sich weiter einen guten Lebensstandard leisten.
Manfred Mager gehört zur ersten Gruppe. Der 69-Jährige arbeitet nach seinem Renteneintritt noch weiter – als Minijobber bei Deutschlands größtem kommunalen Klinikkonzern. Dort ist er fünf Stunden pro Woche für die Netzwerkintegration von Röntgen-großgeräten zuständig. Er macht das nicht wegen des Geldes, sagt er, sondern aus Liebe zum Beruf. In 37 Jahren im Betrieb hat er sich immer mehr Wissen angeeignet, in der Radiologie und Computertomographie gearbeitet, war Strahlenschutzbeauftragter. „Ich wollte dieses Wissen nicht einfach brachliegen lassen, sondern weitergeben und nutzen“, erläutert er.
„Umdenken setzt ein“
Mager ist einer von 19 Prozent der Menschen im Alter von 65 und 69 Jahren, die einer bezahlten Tätigkeit nachgehen, meist sind es geringfügige Beschäftigungen. Doch was im Berliner Klinikkonzern geht, ist längst nicht überall möglich. Bei den Arbeitgebern brauche es mehr Bereitschaft, geeignete Arbeitsplätze anzubieten, falls Rentnerinnen oder Rentner weiterarbeiten wollten, erläutert Scherger. „Da setzt aber schon langsam ein Umdenken ein.“Auch verhinderten noch einige Klauseln in Tarifverträgen längeres Arbeiten für diejenigen Kräfte, die das wollen.
Wie Unternehmen Beschäftigte beim Renteneintritt unterstützen können, weiß Christian Hartmann. Er berät Betriebe, aber auch Neurentner in der Übergangsphase. „Schaffen es Unternehmen, einen wertschätzenden Abschied zu gestalten, bleiben die Beschäftigten ihnen im besten Fall als Mentoren erhalten oder schicken ihre Enkel vielleicht irgendwann in den Betrieb“, sagt der Coach. Er schlägt Firmen vor, mit den Neurentnern ins Gespräch zu gehen. „Die Unternehmen könnten Checklisten erstellen mit Fragen wie: „Was wünschst du dir für deinen Abschied? Was kommt sozialversicherungstechnisch jetzt auf dich zu? Möchtest du dein Diensthandy behalten?“
Doch auch Neurentner können sich vorbereiten. Hartmann coacht Führungskräfte im gehobenen Management, die sich zwei, drei Jahre vor dem Renteneintritt für den Lebensabschnitt wappnen. Dort fragt er zunächst, ob es aufgeschobene Träume gibt – eine Weltreise zum Beispiel oder eine Tour mit dem Wohnmobil durch Skandinavien. Schließlich gehe es aber auch um die Frage, wo Talente eingebracht werden könnten. Zusammen mit den Klienten begibt er sich anschließend auf die Suche nach Aufgaben. „Man sollte jedoch nicht den Fehler machen, sich den Tag vollzuklatschen. Es geht nicht darum, Zeit zu füllen. Die Aufgaben sollten Spaß machen.“
„Die Politik könnte etwas besser über Optionen wie Teilrente oder Rentenaufschub informieren“, sagt Scherger. „Es gibt ziemlich gute Regeln, die Flexibilität ermöglichen. Doch sie werden zu wenig genutzt.“Die rentenpolitische Sprecherin der Spd-fraktion, Tanja Machalet, betont, dass die Politik dafür sorgen müsse, „dass sich Renten und Löhne nicht entkoppeln und die Altersversorgung in Deutschland zum Lebensunterhalt ausreicht“. Wer arbeiten wolle, solle das tun. „Keinesfalls“jedoch dürfe Arbeit im Rentenalter eine Pflicht sein.
Manfred Mager hat sechs Jahre länger gearbeitet als eigentlich nötig. Doch in diesem Jahr hört er endgültig auf. „Langweilig wird mir nicht. Ich habe viele Hobbys wie Rennradfahren, spiele in einer Trommelband und Tischtennis. Außerdem habe ich zwei Enkelkinder, um die ich mich nun mehr kümmern kann“, sagt der Berliner. „Irgendwann muss man einen Schlussstrich ziehen.“