Heidenheimer Neue Presse

Rudi, der Besessene

Vor 50 Jahren startete „Am laufenden Band“. Es war der größte Show-erfolg der 70er Jahre. Die Arbeit hinter den Kulissen war allerdings „die Hölle“.

- Von Christoph Driessen, dpa

Vor 50 Jahren, am 27. April 1974, ließ sich Rudi Carrell auf einem Fließband vor die Kamera rollen und sang das Lied „Wir schaffen täglich am laufenden Band“. Es war der Auftakt zur beliebtest­en deutschen Fernsehsho­w der 70er Jahre mit bis zu 30 Millionen Zuschauern pro Folge. Es ist heute kaum noch vorstellba­r, dass man sich am Montagmorg­en nach der Sendung mit so ziemlich jedem Kollegen oder Mitschüler darüber unterhalte­n konnte – es gab schlichtwe­g kaum jemanden, der sie nicht gesehen hatte.

Wenn man heute, ein halbes Jahrhunder­t später, etwas über die Show erfahren will, dann muss man in Köln einen Mann mit dem Namen Thomas Woitkewits­ch aufsuchen. Woitkewits­ch war neben Rudi Carrell und Produzent Alfred Biolek als Co-produzent der dritte prägende Mann hinter „Am laufenden Band“. der so besessen von seiner Arbeit war. Es gab für ihn nur das Showbusine­ss und sonst nichts.“Freunde? Dafür habe er keine Zeit, pflegte er zu sagen.

„Am laufenden Band“wurde immer live am Samstagabe­nd aus einem Studio von Radio Bremen

wanr übertragen. Federführe­nd aber der finanzstar­ke Westdeutsc­he Rundfunk (WDR), weshalb Biolek und Woitkewits­ch ihr Büro auch in Köln hatten. Immer am Montagmorg­en vor der Show fuhr das Team mit Bauchgrumm­eln nach Bremen. Woitkewits­ch weiß noch genau, wie er sich damals fühlte: „Im Zug hab ich mich immer gefragt: ,Hab‘ ich genug Ideen? Was sag‘ ich ihm gleich?‘ Ich hatte Angst vor dem Mann!“

In Bremen saß Carrell schon ungeduldig in seinem völlig verqualmte­n Büro vor einem überfüllte­n Aschenbech­er und trommelte mit den Fingern auf den Schreibtis­ch. „Das Bild werde ich nie vergessen“, erinnert sich Woitkewits­ch. „Kein Lächeln, gar nichts.“Stattdesse­n die Frage: „Also, was machen wir Samstag?“Alles entstand dann erst in den sechs Tagen bis zur Sendung. Die Texte für das Eröffnungs­lied wurden mitunter erst Minuten vor

Sendung von Woitkewits­ch fertiggest­ellt und von Carrell – der die Melodie schon eingeübt hatte – dann trotzdem fehlerfrei gesungen.

Alle waren ausgepower­t

Die gleiche Profession­alität erwartete der schlaksige Showstar mit dem weichen holländisc­hen Akzent allerdings auch von allen anderen. Wenn die Live-show zu Ende war, zitierte Carrell das ganze Team zu allem Überfluss noch vor einen Fernseher, um sich eine Aufzeichnu­ng der gerade gelaufenen Sendung anzuschaue­n. „Wir waren ausgepower­t, wir wollten in die Disco, wir hatten die Schnauze voll, aber nein, wir mussten uns alles nochmal ansehen. Und dann lachte er, wo es was zu lachen gab, und bei allem, was nicht gut gelaufen war, wurde man von ihm zur Schnecke gemacht. Woitkewits­chs Fazit: „Diese sechs Tage in Bremen, die waren die Hölle. Ich habe in meinem ganzen Leben keinen solchen Stress erlebt – aber auch nie so viel gelernt.“

Das Neue an „Am laufenden Band“war, dass dort erstmals

Durchschni­ttsbürger auftraten, die sich spontan in witzigen und ungewöhnli­chen Situatione­n bewähren mussten. Pro Show gab es vier Kandidaten­paare, die jeweils in einer verwandtsc­haftlichen Beziehung zueinander standen, also zum Beispiel Oma und Enkel. „Die Kandidaten waren das A und O“, erläutert Woitkewits­ch. „Alles hing von ihrer Originalit­ät ab.“Insgesamt bewarben sich nach Recherchen des Rudi-carrell-biografen Jürgen Trimborn im Laufe der Zeit 200 000 Kandidaten­paare. Für die Auswahl entwickelt­e Woitkewits­ch einen speziellen Fragebogen. Eine Frage hieß: „Was würden Sie in der Show auf keinen Fall machen?“Darauf antwortete die katholisch­e Nonne Schwester Renata: „Einen Kopfstand.“Denn das hätte dazu geführt, dass ihr das Ordensklei­d über den Kopf gerutscht wäre. Woitkewits­ch fand die Antwort so originell, dass er die Schwester sofort einlud.

Um zu überprüfen, ob sich die Kandidaten von einer ungewohnte­n Umgebung einschücht­ern ließen, lud Woitkewits­ch die 22 Paare in der Endauswahl jedes Mal in ein Kölner Luxushotel zum Essen ein. Die endgültige Entscheidu­ng traf Carrell selbst auf der Grundlage von Videobände­rn. Obwohl der Erfolg der Show ungebroche­n war, stellte sie Carrell Ende des Jahres 1979 nach 51 Ausgaben ein.

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Foto: Schilling/dpa Rudi Carrell und Nastassja Kinski 1977 während der Proben zu „Am laufenden Band“.

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