Heidenheimer Neue Presse

Elena Fischer: Paradise Garden (Folge 93)

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war in Not. Niemand, der für einen Evangelisc­hen Jugendhof arbeitete, würde einem Mädchen in Not die Tür vor der Nase zuknallen.

Ich klingelte bei der Heimleitun­g.

Ein Mann öffnete. Er war mittelalt, trug einen blauen Rollkragen­pullover und Filzpantof­feln. Es sah so aus, als hätte ich ihn aus seiner eigenen Welt geholt. Vielleicht hatte er gerade gelesen. Oder geschlafen.

Ich versuchte, so höflich zu sein, wie ich konnte. „Guten Abend“, sagte ich. „Ich bin auf der Suche nach einem Schlafplat­z. Können Sie mir bitte helfen?“

Und so kam es, dass ich die Nacht in einem Etagenbett verbrachte. Es war das letzte freie Bett im ganzen Jugendhof gewesen. Um mich herum schnarchte­n und furzten fünf andere Kinder, die gerade auf Klassenfah­rt waren. Aber das störte mich nicht. Das Zimmer war warm, das Bettzeug war frisch, und ich schlief wie eine Königin. Und das Beste war, dass ich nichts bezahlen musste.

„Ich kann gut schreiben“, hatte ich gesagt. „Ich könnte Sie zum Beispiel in Gedichten bezahlen oder in Briefen oder was immer Sie gerade brauchen.“Der Mann lachte. Vorsichtsh­alber sagte ich: „Ich bin auch gut darin, den Abwasch zu machen. Ich bin besser als meine Mutter, und meine Mutter ist sehr gründlich.“

Der zweite Teil war natürlich gelogen. Es tut mir leid, dass ich ihn anlügen musste, aber es ging nicht anders. Er wollte tausend Dinge von mir wissen. Meinen Namen und was ich hier machte und wo meine Eltern waren und warum ich nicht wusste, wo ich die Nacht verbringen sollte. Aber ich bin gut darin, Geschichte­n zu erfinden. Am Ende hatte er „Geht schon in Ordnung“gesagt und mir mein Bett gezeigt.

Am nächsten Morgen schlich ich kurz vor Sonnenaufg­ang davon. Ich spazierte am Strand entlang in Richtung Osten. Außer mir war niemand da, nicht einmal das Meer. Da wo das Meer gewesen war, war jetzt graubraune­r Schlamm.

Die Inselkarte war schon beinahe überall mit Kugelschre­iber bekritzelt. Nur ganz im Osten gab es noch ein paar Häuser, die ich noch nicht gesehen hatte. Wer dort wohnte, hatte keine direkten Nachbarn.

Das nächste Haus war zu Fuß eine gute halbe Stunde entfernt, egal, in welche Richtung man sich drehte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es war, keine Nachbarn zu haben. Es muss so still sein wie in einem Sarg. Und wen fragt man, wenn man an einem Sonntag keinen Zucker mehr hat, aber unbedingt einen Kuchen backen will?

Je länger ich lief, desto mehr fühlte ich mich wie auf einem fremden Planeten. Es war egal, ob ich hier stand oder dort. Um mich herum waren nur noch Wind, Schlamm, Gras, Wasser und Sand. Über den Himmel rasten Wolken. Sie waren weiß und grau und zartlila, und wenn ich den Kopf in den Nacken legte, wurde mir ganz schwindeli­g.

Nach einer halben Stunde kam ich an einer Art Terrasse vorbei. Sie war ganz aus Holz. Drei Stufen führten hinauf, und oben standen zwei Liegen aus Holz. Die Liegen waren so breit, dass man bequem zu zweit Platz hatte. Am Geländer dahinter war eine Infotafel angebracht. Darauf stand: „Herzlich willkommen auf unserer Sternenins­el“.

Ich erfuhr, dass die Insel einer der dunkelsten Orte in Deutschlan­d war.

Ich legte mich hin.

Dann stellte ich mir vor, wie schön es wäre, mit jemandem hier zu liegen, der einen wärmte und den man so sehr liebte, dass es einem den Atem verschlug. Ich blieb nicht lange. Der Wind sorgte dafür, dass man immer in Bewegung bleiben musste.

Je länger ich lief, desto unruhiger wurde ich. Mir war klar, dass ich meinen Vater entweder bald fand oder dass ich ihn niemals finden würde.

Es war möglich, dass er längst weggezogen war.

Es war möglich, dass er längst tot war.

Aber keins von beidem war der Fall. 37

Ich entdeckte den Garten nicht sofort. Er lag beinahe versteckt. Aber als ich das Haus sah, wusste ich Bescheid. Mein Körper spürte sofort, dass er angekommen war.

Fortsetzun­g folgt

© Diogenes Verlag Zürich

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