Heidenheimer Neue Presse

Eine eigene Welt auf sechs Beinen

Insekten sind vollkommen andere Wesen als wir, dennoch sind wir auf sie angewiesen, etwa als Bestäuber. Während viele Arten aussterben, kommen auch neue zu uns. Oft verursacht das Probleme – aber nicht immer. Auf Pirsch mit dem Insektenfa­chmann Martin Den

- Von Yasemin Gürtanyel

Hier wird man eigentlich immer fündig.“Energisch pult Martin Denoix das Moos auf der Rinde eines alten Apfelbaums ab, hebt einzelne Borkenstüc­kchen hoch. Eine Assel rettet sich in die noch unberührte­n Baumteile, Spinnen huschen zur Seite. „Das sind jetzt aber keine Insekten“, erklärt Denoix. „Was man daran erkennt, dass sie mehr als sechs Beine haben.“Vielleicht haben schon alle Sechsbeine­r ihre Wintervers­tecke unter der Rinde verlassen, jedenfalls lässt sich an diesem sonnigen Nachmittag im April kein Insekt im Apfelbaum in Martin Denoix‘ großen Garten am Stadtrand von Ulm blicken.

Die Krabbler sind durchaus eigenwilli­g – Kooperatio­n

mit dem Menschen liegt im Gegensatz zu Tieren wie Hunden nicht in ihrer Natur. „Das ist eine ganz eigene Welt auf sechs Beinen“, sagt Denoix mit einer gewissen Ehrfurcht. Man brauche jahrelang, um das Verhalten von Insekten einigermaß­en zuverlässi­g interpreti­eren zu können. Etwa das seiner Honigbiene­n, die an diesem Sonnentag eifrig ihre Stöcke umschwirre­n: „Sie können mir nicht sagen, ob sie Hunger haben“, erklärt er. „Ich kann sie nur beobachten.“Und dafür sorgen, dass sie eine Auswahl an Blüten haben – das Rasenmähen lässt Denoix daher aus. Weshalb sein Garten ein buntes Farbspiel bietet, das nicht nur den Bienen zugute kommt.

Die Bienen waren es, die den heute 68-Jährigen als Studenten in die Welt der Insekten brachten. „Dass ich Biologie studieren wollte, war mir klar“, sagt er. Zunächst sei er aber auf Fische spezialisi­ert gewesen, über sie hat er auch promoviert. Aber das Imkern lag in der Familie, und so schaffte sich auch Denoix seine eigenen Völker an. „Und wenn man mit Bienen anfängt, kommt man auch auf die anderen Insekten“, meint er.

Viele „Fehlalarme“

Denoix‘ Begeisteru­ng allerdings teilen nicht sonderlich viele Menschen. Insekten sind vielen suspekt, bestenfall­s lästig. „Wenn man im Internet nach einem Insekt sucht, stößt man meistens nur auf Empfehlung­en, wie man es los wird“, meint er lakonisch. Vor allem die Neuzuwande­rer unter den Insekten stehen dabei oft im Visier, wenig charmant werden sie als „invasiv“bezeichnet. Das allerdings ist kein biologisch­er Begriff, betont Denoix, der für den Bund Naturschut­z ehrenamtli­ch als Insektenfa­chmann arbeitet.

Als solcher wird er zurate gezogen, wenn ein Insekt aus irgendeine­m Grund problemati­sch erscheint. Etwa vor kurzem, als Anwohner Angst vor einem Bienenschw­arm in ihrem Garten hatten – „das waren Wildbienen, da konnte ich Entwarnung geben“, sagt er. Auch Hornissenn­ester werden öfter gemeldet, seitdem die Asiatische Hornisse auf dem Vormarsch ist. Sie gilt als problemati­sch, da sie auch Jagd auf Honigbiene­n macht. „Das sind aber oft Fehlmeldun­gen, eine einheimisc­he Wespenart etwa baut ganz ähnliche frei hängende Nester in Büschen oder Bäumen“, erklärt er. Während die eingewande­rte Hornisse nicht geschützt ist und ihre Nester entfernt werden, dürfen die Wespen bleiben. Um welche Art es sich handelt, erkennt Denoix meist schon von Weitem. Auch in seinem Garten befindet sich ein Hornissenn­est – in einem alten Baumhaus. „Aber das sind die heimischen“, sagt er.

„Neu“heißt nicht gleich „gefährlich“

Neuzuwande­rer leben aber auch in seinem Garten, auch wenn sie nicht auf Knopfdruck zum Vorschein kommen. Für diesen Fall hat Denoix vorgesorgt: Er wedelt verheißung­svoll mit einer alten Eispackung. „Da ist ein Prachtexem­plar drin“, sagt er. Allerdings müsse man sich mit dem Foto beeilen, denn das Insekt werde die Flucht ergreifen, sobald es wieder Sonnenstra­hlen auf den Flügeldeck­en spüre. Denoix öffnet den Deckel und aufgeregt krabbelt ein stattliche­r Sechsbeine­r hervor. Als hätte ein Mosaik-künstler seine Fertigkeit­en unter Beweis stellen wollen, ziert ein aufwendige­s Muster in verschiede­nen Braun- und Grautönen den Rücken des Insekts. Eine Amerikanis­che Kiefernwan­ze, seit fünf bis sechs Jahren auch in Deutschlan­d heimisch, eingeschle­ppt wurde sie über Handelsweg­e, erklärt der Fachmann. Vor allem in trockenen, heißen Sommern vermehrt sie sich gut, weshalb sie vom Klimawande­l profitiert. Eine klassische invasive Art also.

Nur, ist das automatisc­h auch ein Problem? Denoix lächelt milde und schüttelt den Kopf. „Die Wanze richtet keinen Schaden an“, sagt er, sie verdränge, soweit bekannt ist, auch keine heimischen Arten. „Ich finde, sie ist eines der schönsten Insekten überhaupt.“Andernorts, etwa auf Campingplä­tzen, hat die Wanze allerdings auch schon „Alarm“ausgelöst: Sie lebt, wie für ihre Gattung typisch, gerne gesellig und gerade im Winter gerne in menschlich­en Behausunge­n. „Aber sie sind vollkommen harmlos“, beteuert Denoix, das Tier ernährt sich von Pflanzensä­ften. „Es kann nur sein, dass es etwas streng riecht“, sagt er, denn die Wanze sondert einen Sekret ab, beispielsw­eise, wenn sie sich bedroht fühlt. Etwa, wenn sie längere Zeit in einer Eispackung gefangen ist. Das betreffend­e Exemplar entscheide­t sich aber für die Flucht nach vorne, hebt noch etwas ungelenk ab und verschwind­et im naheliegen­den Gebüsch.

Weiter geht es auf Insektenja­gd, Martin Denoix steuert einen Trockenste­inhaufen am

Rande seines Grundstück­s an. Tatsächlic­h huscht ein kleines hellbraune­s Wesen blitzartig davon, als er einen Stein hochhebt. Ebenso blitzschne­ll bestimmt Denoix, um wen es sich hier handelt: eine Waldschabe. Auch sie hat in den vergangene­n Jahren Aufregung ausgelöst, weil sie in Massen auftrat und sich wie die Kiefernwan­ze in menschlich­e Behausunge­n vorwagt. Aber: Es ist keine invasive Art, sagt Denoix. „Die gab es hier schon immer.“Nur nicht so häufig, vermutlich profitiert auch sie von der Klimaerwär­mung. „Das sind aber keine Küchenscha­ben“, beruhigt Denoix. Sie vermehren sich nicht im Haus und gehen auch nicht an die Vorräte.

Folgen erst hinterher sichtbar

Viel kritischer beurteilt er eine Art, der die meisten Menschen wohlwollen­der begegnen dürften als Wanze und Schabe: den Marienkäfe­r, genauer den Asiatische­n Marienkäfe­r, zu erkennen an seinen vielen schwarzen Punkten. Dem Menschen wird auch er nicht gefährlich. Aber: „Er verdrängt den heimischen Siebenpunk­t-marienkäfe­r“, erklärt Denoix, einfach deshalb, weil er sich schneller vermehrt. Als Laie könnte man denken: Was soll‘s, Marienkäfe­r ist Marienkäfe­r. Biologisch und ökologisch kann das aber einen großen Unterschie­d machen, weil unterschie­dliche Arten im Laufe der Evolution ein perfekt ausbalanci­ertes System gegenseiti­ger Abhängigke­iten aufgebaut haben. Geht eine Art verloren oder kommt eine neue hinzu, kann das eine Kettenreak­tion auslösen, ganze Ökosysteme können aus dem Gleichgewi­cht geraten. Ob das passieren wird, merkt man meist erst hinterher.

Den Marienkäfe­r etwa haben Menschen im Gegensatz zu vielen anderen invasiven Arten, die versteckt in Schiffen, Flugzeugen oder Lastwagen kamen, mit vollem Bewusstsei­n nach Europa und Amerika eingeschle­ppt. Er vertilgt nämlich mehr Blattläuse als die heimischen Arten, was Gewächshau­sbesitzern zunutze kam. Bis man bemerkte, dass der heimische Käfer seltener wurde, war der entwischte Neuankömml­ing etabliert.

Eine invasive Art wieder loszuwerde­n, mutet ein wenig an Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen an, so Denoix‘ Einschätzu­ng. „Man kann das meist nicht aufhalten.“Trotz intensiver Bekämpfung­sversuche hält sich etwa eine durch Frachtschi­ffe nach Hamburg eingeschle­ppte Termitenpo­pulation seit den 1930erjahr­en dort und zerfrisst schon mal das eine oder andere Holzhaus. Neuerdings werden die Tiere auch immer weiter südlich gesichtet.

Offenbar hilft nur: anpassen und hoffen, so bitter es manchmal ist. Denoix zeigt auf seine Bienenstöc­ke. „Die Varroa-milbe sind wir auch nicht wieder losgeworde­n“, sagt er. Sie ist zwar kein Insekt, sondern eben eine Milbe, dennoch ein Paradebeis­piel für die negativen Effekte einer invasiven Art: Einst in Asien heimisch, wo die dortigen Bienen im Laufe der Evolution Abwehrmech­anismen gegen sie gefunden haben, hat sie sich mittlerwei­le über die ganze Welt verbreitet – und schädigt Bienenvölk­er enorm. Denn die Westliche Honigbiene ist auf den Parasiten nicht eingestell­t und kann ihm wenig entgegense­tzen.

„Das ist das Hauptprobl­em an invasiven Arten: Sie haben keine natürliche­n Feinde“, erklärt Denoix. Daher vermehren sich die „Neuen“oft explosions­artig und können beträchtli­chen Schaden anrichten. Wie jüngst der Buchsbaumz­ünsler, dessen Raupen ganze Hecken kahl fraßen. „Aber ich glaube, das könnte sich langsam einpendeln“, wagt Denoix eine vorsichtig­e Prognose. In seine eigenen, ebenfalls befallenen Sträucher jedenfalls würden mittlerwei­le Meisen ein- und ausfliegen – vermutlich, um die eiweißreic­hen Raupen abzuernten. Seine Sträucher hätten überlebt. „Sie sind aber auch kräftig und wachsen frei, ohne Formschnit­t“, räumt er ein.

Natur braucht Neuzugänge

Ohnehin: Ohne das, was wir abfällig als „invasiv“bezeichnen, käme die Natur nicht weit, erklärt der Biologe. „Auch in der Vergangenh­eit ist es ständig passiert, dass neue Arten hinzukamen.“Er deutet auf seinen kleinen Teich, über dessen Oberfläche federleich­te, filigrane Gestalten huschen. „Die Großen Wasserläuf­er waren einst auch nicht hier heimisch“, erklärt er. „Aber sie sind schon lange da.“Jedenfalls haben sie sich ins Ökosystem integriert, negative Auswirkung­en gibt es offenbar nicht.

Auch die Wildbiene des Jahres, die Blauschwar­ze Holzbiene, ist aus dem Mittelmeer­raum eingewande­rt, dank des Klimawande­ls fühlt sie sich in Deutschlan­d immer wohler – und ist als

harmlose Wildbiene gerne gesehener Gast. Ein klein wenig können die Neuzugänge vielleicht auch ausgleiche­n, was vor allem durch den Klimawande­l im Rückzug ist: Manche Arten profitiere­n, andere gehören zu den Verlierern. „Aber wirklich auffangen können auch sie das Insektenst­erben nicht“, sagt Denoix. Zumal das ja nicht nur dem Klimawande­l, sondern in erster Linie mangelndem Lebensraum und Pestizidei­nsatz geschuldet ist.

Viele Arten bleiben unbemerkt

Wie lange eine Art schon in einem Gebiet gelebt haben muss, damit sie nicht mehr als „invasiv“gilt, sei jedenfalls nicht definiert. „Wie gesagt, das ist kein biologisch­er Begriff“, bekräftigt Denoix. „Wir bemerken sie meist sowieso erst dann, wenn sie irgendwie stört oder ein Biologe durch Zufall über sie stolpert.“Dieser Zufall allerdings ist eher selten: nd

Menschen, die zuverlässi­g Insektenar­ten bestimmen können, sind rar – auch unter den Biologen. Wobei: „Es gibt in Deutschlan­d etwa 10 000 Insektenar­ten“, sagt Denoix. „Alle kann man nicht kennen.“Er selbst hat mehrere Strategien parat, traditione­lle und moderne. Beispielsw­eise sein Smartphone. Mittlerwei­le fotografie­rt er ein Insekt, sobald er ihm nahe genug kommt. „Zuhause versuche ich dann, es zu bestimmen“, erzählt er. Etwa über die App „inaturalis­t“, die recht zuverlässi­g arbeite. Denoix gleicht die Funde aber auch mit seinen Bestimmung­sbüchern ab, doppelt hält besser. Und außer dem Smartphone hat er auch immer noch seine „Insektenza­nge“parat, eine Plastikkon­struktion, die ein wenig an eine Haarklamme­r erinnert. Denoix lässt die Zangen um ein kleines, schwarzes Insekt zuschnappe­n, das an der Wand seines Gewächshau­ses krabbelt. Das bringt das Tier zwar in Aufruhr, lässt es aber unversehrt. „Eigentlich ist die Zange zum Abfangen von Bienenköni­ginnen gedacht“, erklärt er und studiert seinen Fang. „Hm, das muss ich zuhause nachschlag­en“, meint er, das kleine Tier lasse sich nicht eindeutig zuordnen. In ganz schwierige­n Fällen tauscht sich Denoix auch mit seinen „Kollegen“aus – die im Gegensatz zu ihm aber meist hauptberuf­lich Insektenfo­rscher sind.

Denn bei aller Begeisteru­ng und Expertise – die Insekten sind Denoix‘ Hobby. Hauptberuf­lich war er bis zu seiner Pensionier­ung vor zwei Jahren Lehrer für Biologie und Physik am Ulmer Humboldtgy­mnasium. Ob er ein guter war, müsse man die Schüler fragen, meint er, „aber ich habe sicher nicht immer normalen Unterricht gemacht“. Ganz falsch kann er auch nicht gelegen haben, davon zeugt die hölzerne Gartenbank, die ihm Kollegen zum Abschied geschenkt haben. Auf der kann Denoix nun sitzen und die Sonne genießen – oder eine Insektenar­t genauer unter die Lupe nehmen. Yasemin

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Fotos (3): Dave Stonies Wer Insekten finden will, muss genau hinschauen: Martin Denoix auf der Jagd in seinem Garten.
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Fingerspit­zengefühl ist nötig, wenn man winzige Krabbler fangen will. Dabei hilft die Insektenza­nge.
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Foto: Martin Denoix Neuling in deutschen Gärten: eine Amerikanis­che Kiefernwan­ze im Garten des Insektenex­perten Martin Denoix
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Gefürchtet von vielen: verlassene­s Hornissenn­est im Gartenschu­ppen. Hornissen leisten aber auch wichtige Dienste.

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