„Friedensfähig werden, nicht kriegstüchtig“
Mit ihrem Pazifismus eckt die Theologin an. Doch sie bleibt dabei: Waffen seien nicht die Lösung. Auch nicht in der Ukraine. Ein Gespräch über Kriegstreiber, Missbrauchstäter und die Zukunft der Kirchen.
An kirchlichen Ämtern liegt es nicht. Mehr an ihrer Person und ihren Worten. Margot Käßmann füllt Säle. So auch bei einer Veranstaltung unserer Zeitung. Der profilierten evangelischen Theologin gelingt es wie kaum einer anderen, auf Nöte von Menschen einzugehen. Doch die überzeugte Pazifistin scheut sich auch nicht anzuecken. Mit ihrer Position zum Krieg in der Ukraine beispielsweise. Genügend Stoff für einen spannenden Abend.
Frau Käßmann, Sie sagen, es bräuchte derzeit mehr Diplomatie-strategen als Militärstrategen. Reicht das wirklich aus?
Mich irritiert, dass wir seit Kriegsbeginn in der Ukraine im Februar 2022 nur über Militärunterstützung sprechen. Zuerst ging es um Helme, dann um Waffenlieferung. Jetzt wird eine Atombewaffnung der EU gefordert. Das halte ich persönlich für die falsche Richtung. Ich würde mir wünschen, dass wir als Deutsche mehr vermitteln. Ich bin keine Putin-versteherin. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass wir friedensfähig werden und nicht kriegstüchtig.
Stößt der Pazifismus angesichts der russischen Aggression nicht an seine Grenzen?
Die Frage ist doch: Wer kommt an seine Grenzen. In erster Linie doch die vielen Tausend Soldaten, die in den Schützengräben in der Ukraine sterben. Kann es da wirklich nur darum gehen, wie viele Waffen wir liefern können? Müsste nicht viel intensiver auf Putin eingewirkt werden, diesen Krieg zu beenden?
Auch in der Evangelischen Kirche sprechen manche vom „gerechten Krieg“oder„gerechten Frieden“. Gibt es aus christlicher Sicht ein Richtig oder Falsch?
Da kann ich jetzt mit Martin Luther argumentieren. Auf die Frage, ob ein Soldat christlich sein kann, hat dieser gesagt: Ja, wenn er sein Gewissen schärft. Insofern sind beide Positionen in unserer Kirche möglich. Ich gehöre jedoch zu der Gruppe, die sagt, ich kann aus der Botschaft Jesu Krieg und Gewalt nicht ableiten. Ich respektiere aber, wenn man das anders sieht. Wichtig wäre mir, dass jeder sein Gewissen prüft.
Der russische Patriarch Kyrill rechtfertigt den russischen Angriffskrieg. Wie befremdlich ist das für Sie?
Ich kenne Kyrill gut. Denn ich habe mit ihm 20 Jahre lang in Gremien des Ökumenischen Rates der Kirchen gesessen. Er lehnt die gesamte westliche Welt als unchristlich ab. Als Bischöfin hat er mich ignoriert, und als ich dann zur Ekd-ratsvorsitzenden gewählt wurde, hat er die Beziehung zur Evangelischen Kirche abgebrochen. Was er jetzt im Zusammenhang mit Putins Krieg macht, ist für mich Blasphemie, Gotteslästerung.
Die christliche Botschaft hätte das Zeug, die Welt zu verändern. Doch sie scheint nicht mehr zu zünden?
Da wäre ich vorsichtig. Meine Generation hat so ein Wunder erlebt, als in der DDR aus den Kirchen in Dresden, Leipzig oder Berlin der Ruf „Keine Gewalt“auf die Straßen getragen wurde. Das hat zu einer friedlichen Revolution geführt. Solche Wunder sind möglich. Wir brauchen als Menschen Hoffnungsbilder, wie die Bibel sie bereithält. Sie können inspirieren, im anderen den Menschen zu sehen und nicht nur den Feind.
Lässt sich damit Bösem entgegentreten?
Schauen Sie auf die Geschichte: Nicht die Gewaltherrscher sind unsere Helden, sondern Menschen, die versucht haben, gewaltfrei dem Bösen zu widerstehen. Ich nenne mal den Widerstandskämpfer Helmuth James Graf von Moltke. Die großen Friedenspropheten der Welt haben bei mir wesentlich mehr Eindruck hinterlassen als die Männer der Macht.
Kritik mussten Sie einstecken, als Sie das „Manifest für Frieden“von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zum Ukrainekrieg unterzeichnet haben. Fühlen Sie sich da falsch verstanden?
Nein. Mir war wichtig, dass einmal infrage gestellt wird, ob Waffenlieferungen wirklich die einzige Antwort auf Putins Angriffskrieg sein können. Dass die Friedensbewegung dafür kritisiert wird, finde ich undemokratisch. Gerade Ältere sprechen sich gegen Waffenlieferungen aus. Das kann daran liegen, dass diese Generation die Kriegserzählung der Eltern noch kennt. Meine Kinder und Enkelkinder haben nicht mehr vor Augen, welche entsetzlichen Zerstörungen von Kriegen ausgehen.
Sehen Sie eine politische Kraft, die so konsequent für Frieden eintritt, wie Sie sich das wünschen?
Die AFD ist es nicht. Wer im eigenen Land massiv Unfrieden sät, indem er die Bevölkerung spaltet zwischen denen, die schon immer hier waren und denen, die dazugekommen sind, der kann nicht glaubwürdig für Frieden eintreten.
Wie beurteilen Sie das neue Bündnis um Sahra Wagenknecht?
Sie ist eine Stimme für diesen Kurs. Doch in Fragen wie der Flüchtlingspolitik stimme ich nicht mit ihr überein. Ich bin kein Mitglied einer Partei, sondern eine Frau der Kirche. Damit habe ich genug zu tun.
Was können Kirchen noch bewegen, denen Mitglieder in Scharen davonlaufen?
Die Kirchen sind in einer schwierigen Situation. Das ist auch für mich belastend. Dass es Missbrauch in der Evangelischen Kirche in großem Umfang gegeben hat, hätte ich mir nicht vorstellen können. Ich habe einen riesigen Zorn auf die Täter.
Durch ihr grausames Handeln haben sie die ganze Kinder- und Jugendarbeit der Kirchen diskreditiert.
Die Evangelische Kirche hat sich lange als bessere Kirche verstanden. Woher kommt dieses trügerische Selbstbild?
Wir dachten, dass wir unbefangener mit Sexualität umgehen. Doch seit der Missbrauchs-studie wissen wir: Es gibt auch in der Evangelischen Kirche täterschützende Strukturen. Diese hängen auch bei uns mit einem erhöhten Bild des Pfarrers oder Pastors zusammen, selbst wenn dieser bei uns nicht geweiht wird. Diese Aura müssen wir aufbrechen.
Ist die Evangelische Kirche dazu bereit? Die Verfasser der Forum-studie beklagten, dass ihnen nicht alle Akten überlassen wurden.
Das ist ärgerlich. Herausgegeben wurden nur Akten von Disziplinarfällen, wo also ein Vorfall feststand. Doch die Forscher hätten auch die Personalakten auswerten müssen, denn sie können Anmerkungen oder Indizien auf Verbrechen enthalten.
Die Missbrauchsskandale haben eine bereits existierende Entwicklung noch befeuert: die Entchristlichung der westlichen Welt. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?
Sie führt zu einer großen Verlusterfahrung. Wir verlieren unsere gemeinsamen Erzählungen. Viele wissen nicht mehr, was wir an Ostern oder Pfingsten feiern.
Mit dem Verlust gemeinsamer Rituale geht auch ein Verlust von Gemeinschaft einher. Denn in Kirchengemeinden treffen sich Menschen über Schichten und Altersgrenzen hinweg. Wir erleben einen gigantischen Traditionsabbruch.
Was heißt das dann für eine Kirche in 30 oder 40 Jahren?
Uff. Ich habe in letzter Zeit vermehrt Kinder im Grundschulalter getauft. Sie waren über die Kita oder den Religionsunterricht zum Glauben gekommen. Vielleicht kann gute Arbeit in Schulen bei Kindern Neugierde auf Glauben und Religion wecken. Es ist gut, wenn Kinder beten können. Dann haben sie Worte in einer Situation großer Not.
Beten Sie selbst?
Für mich ist das Abendgebet wichtig. Da lege ich den Tag zurück in Gottes Hand. Doch mir ist auch wichtig, dass wir kein Leistungsbeten machen. Luther sagte: Jeden Tag ein „Vater unser“und ein lautes „Amen“gegen den Zweifel. Das wär’s.
Haben Sie das auch in der eigenen Familie weitergegeben?
Ja. Und ich bete abends auch mit meinen Enkeln.
Sie regen sich darüber auf, dass Mütter zu wenig unterstützt werden. Was läuft falsch in der Familienpolitik?
Ich wünsche mir, dass es für Familien mehr Wahlfreiheiten gibt. Stattdessen sehe ich eine große Unzuverlässigkeit in den Kinderbetreuungszeiten. Wie soll da selbst eine eingeschränkte Berufstätigkeit möglich sein? Jetzt soll eine Garantie bei der Grundschulbetreuung kommen. Ich könnte mich totlachen.
Sie standen lange in der Öffentlichkeit – und wurden auch angefeindet. Was machte das mit Ihnen?
Das Bösartige ist mir viele Herzen gegangen.
Jahre sehr zu
Macht Ihnen Hoffnung, dass zuletzt Hunderttausende gegen Hass und Hetze auf die Straße gegangen sind?
Ja. Es gibt diese Mehrheit, die lange geschwiegen hat und die nun sagt: Es reicht. Selbst in Ostdeutschland sind viele auf die Straße gegangen. Und dort braucht es mehr Mut als im Westen.