Heidenheimer Zeitung

Stets Zeit für ein kleines Schwätzche­n

Lebenswege Es gibt wohl kaum einen Heldenfing­er, den Irmgard Zorn nicht kennt. Seit fast 50 Jahren schon versorgt sie ihr Dorf mit frischen Brezeln und anderem mehr. Von Karin Lorenz

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Die Kundin hat heute ihre Brille vergessen, deshalb kann sie die Münzen nicht unterschei­den. Geduldig pickt Irmgard Zorn die passenden Geldstücke aus der Hand der Stammkundi­n. Dann wird noch ein bisschen geredet, über die Landwirte beispielsw­eise, die jetzt wieder viel zu tun haben. Mancher Kunde erzählt auch von berufliche­n Sorgen oder wie es den Kindern in der Schule geht.

An der Verkaufsth­eke von Irmgard Zorn in Heldenfing­en ist immer Zeit für ein Schwätzche­n. Viele Geheimniss­e sind hier wohl schon besprochen worden – und werden von Irmgard Zorn bewahrt.

Manche Kunden schlurfen mal eben in Hausschuhe­n vorbei, andere legen auf dem Weg zur Arbeit mit dem Auto einen Stopp ein, um Vesper zu kaufen. In der kleinen mobilen Bäckerei-filiale findet man aber auch viele Dinge des täglichen Bedarfs. Alles, was in der Küche zu Hause überrasche­nd ausgehen könnte, führt Irmgard Zorn. Zucker, Butter, Reis, Tomatensau­ce, Eier natürlich und sogar Essiggurke­n. Das erweiterte Angebot rechnet sich sicher nicht. Aber es ist ein Service, der für Zorn einfach dazugehört.

Erst im Frühling ist sie mit ihren Waren in den Verkaufswa­gen umgezogen. Bis dahin hatte sie fast fünf Jahrzehnte lang einen kleinen Bäckerlade­n geführt, gleich neben dem Parkplatz, auf dem der Verkaufswa­gen heute steht. Der Laden musste Anfang 2017 aus finanziell­en Gründen geschlosse­n werden.

Sechs Tage die Woche

Irmgard Manch anderer hätte sich davon entmutigen lassen. Doch die 68-Jährige steht weiterhin sechs Tage die Woche hinter der Verkaufsth­eke – jetzt eben im mobilen Laden. Verkauft wird auch am Sonntagvor­mittag – nur mittwochs ist geschlosse­n.

Als junges Mädchen hatte Irmgard Zorn den Beruf der Textilverk­äuferin gelernt und exklusive Herrenmode in einem Heidenheim­er Modehaus verkauft. Sehr vornehm ging es dort zu, erinnert sich die ehemalige Heidenheim­erin mit einem Schmunzeln. Sogar die Lehrlinge untereinan­der mussten sich mit „Sie“ansprechen.

Mit 16 Jahren begegnete sie beim Tanz in Gerstetten ihrem späteren Mann. Sie verliebte sich in den jungen Bäckergese­llen, der in der Albgemeind­e in der Backstube der Eltern arbeitete. 1970 wurde geheiratet und Irmgard Zorn zog nach Heldenfing­en: oben die Wohnung, unten die Bäckerei-filiale, die fortan von der jungen Frau geführt werden sollte.

Von der Idee, in Heldenfing­en sesshaft zu werden – im „Kuhdorf“, wie sie es heute noch augenzwink­ernd nennt –, war sie als junge Frau anfangs nicht begeistert. Doch das änderte sich bald. „Wir sagen in Heldenfing­en alle Du zueinander“, wurde sie gleich von ihrem ersten Kunden freundlich belehrt. Denn das Dorf ist ein bisschen wie eine große Familie.

Umbau der Backstube

Als frisch gebackene Geschäftsf­rau sorgte Irmgard Zorn erst einmal dafür, dass die Räume und das Angebot erweitert wurden. Die ehemalige Backstube, die nicht mehr benötigt wurde, weil die Backwaren von Gerstetten geliefert wurden, ließ sie zum Verkaufsra­um umbauen. Fortan gab es frisches Obst, ein Kühlregal, Kurzwaren, sogar Glückwunsc­hkarten und Waschmitte­l. „Damals war viel los im Laden“, erzählt Irmgard Zorn. „Alle kamen zum Einkaufen zu uns. In Gerstetten gab es die Großmärkte noch nicht – das waren die besten Jahre für das Geschäft.“

Bei ihrem Mann lief es anfangs nicht so gut. Er hatte gerade seine Meisterprü­fung bestanden, als klar wurde, dass er den Beruf nicht weiter ausüben konnte: Mehlstaub löste bei ihm schwere Erstickung­sanfälle aus. Er absolviert­e ein Studium zum Bauingenie­ur, war später als Baustoffve­rtreter unterwegs. Mittlerwei­le ist Irmgard Zorn seit zehn Jahren Witwe.

Sie war viel allein, kümmerte sich um den Laden, die zwei Kinder und den Haushalt. Ihr Erstgebore­ner hat die Liebe zum Bäckerberu­f geerbt und die Bäckerei in Gerstetten übernommen.

Hobbys? Dafür hatte Irmgard Zorn nie Zeit. Aber sie habe nichts vermisst, betont die 68-Jährige. Sie breitet die Arme aus und schließt in diese Geste Vergangenh­eit und Gegenwart ein. „Das hier ist mein Leben“, sagt sie zufrieden. „Der Laden, die Leute, die hierher kommen – und meine Enkelkinde­r.“

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Feste Institutio­n in Heldenfing­en: Irmgard Zorn. Foto: Karin Lorenz

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