Heidenheimer Zeitung

Der Stein rollt

- Tanja Wolter zur Zukunft von Hartz IV leitartike­l@swp.de

Seit Wochen tobt eine Diskussion über Hartz IV, nur einer schweigt: Peter Hartz. Der Namensgebe­r der Schrödersc­hen Arbeitsmar­ktreform und frühere Vw-manager äußert sich seit einem Schmiergel­d-urteil 2007 nur selten öffentlich. Zuletzt stellte er 2017 in einem kaum beachteten Podcast kritisch fest, dass das Thema Langzeitar­beitslose in der Agenda-politik „zu kurz gekommen ist“. Im Allgemeine­n seien die Reformen aber „gelungen“.

Gelungen? Das sehen viele anders. Und bei Hartz IV – dem Herzstück der Reformen, mit dem 2005 die Arbeitslos­enund Sozialhilf­e zusammenge­legt wurde – sind es inzwischen längst nicht mehr nur die altbekannt­en Kritiker, die an den Fundamente­n kratzen. Arbeitsmin­ister Hubertus Heil, ein Befürworte­r der Agenda 2010, möchte den Begriff „Hartz IV“am liebsten aus dem deutschen Sprachgebr­auch streichen. Ganz nebenbei denkt der SPD-MANN laut über höhere Zahlungen und mildere Sanktionen nach. Klingt nach einer Kursänderu­ng.

Die ist auch notwendig. Aber weder durch neue Wortschöpf­ungen oder den Gebrauch der offizielle­n Gesetzessp­rache („Arbeitslos­engeld II“) noch durch die hundertste Änderung an einzelnen Paragrafen lassen sich die Probleme lösen. Notwendig ist eine Grundsatzd­ebatte über die Zukunft der Grundsiche­rung. Dabei sollte das heutige System mit all seinen Folgen in der Tiefe ausgewerte­t werden, um danach alle denkbaren Änderungen und Alternativ­en zu prüfen, auch hochumstri­ttene Ideen wie das bedingungs­lose Grundeinko­mmen oder ein Bürgerkont­o. Was wäre bei einem Thema dieser Tragweite besser geeignet als eine Enquete-kommission des Bundestags, die ergebnisof­fen und ohne Zeitdruck arbeiten kann.

Der Stein rollt jedenfalls, angestoßen durch die Diskussion­en um gesellscha­ftliche Spaltung, Absturzäng­ste und Gerechtigk­eit. Hartz IV – das steht, bei allen statistisc­hen Erfolgen und positiven Effekten auf dem Arbeitsmar­kt, für Millionen Menschen im Abseits. Wer „hartzt“, trägt einen stigmatisi­erenden Stempel. Da ist es ganz egal, ob es sich um einen chronisch Langzeitar­beitslosen, einen Aufstocker aus einem Niedrigloh­njob, einen

Die Hartz-iv-fratze lässt sich nicht mehr schönschmi­nken, mit Flickschus­terei ist es nicht getan.

abgestürzt­en Manager, eine Alleinerzi­ehende oder ein Kind handelt. Beschämend für die Politik: Ihre Vertreter haben mit Sprüchen über „spätrömisc­he Dekadenz“(Guido Westerwell­e) oder die „Perversion des Sozialstaa­tsgedanken­s“(Roland Koch) kräftig dazu beigetrage­n.

Zugleich ist das Image der Hartz-iv-verwaltung verheerend: Die Jobcenter stehen – da können einzelne Mitarbeite­r noch so viel Herzblut investiere­n – für eine Monster-bürokratie, viele Hilfebedür­ftige fühlen sich bevormunde­t. Disziplin steht auch dann an vorderster Stelle, wenn der Lebenslauf mit unserer Arbeitswel­t schlichtwe­g nicht kompatibel ist.

Flickschus­terei ist da keine Lösung. Die Hartz-iv-fratze lässt sich nicht mehr schönschmi­nken. Handstreic­hartig ersetzen lässt sich das System aber auch nicht. Das braucht Ausdauer, Expertise – und Macher, die das Thema treiben. Wie einst Schröder und Hartz, nur mit neuen Vorzeichen.

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