Die lange Spur der Militanz
High sein, frei sein, Terror muss dabei sein: Der gesellschaftliche Aufbruch vor 50 Jahren ist mehr als der Sommer der Liebe. Gewalt begleitet den Wunsch nach einem Leben ohne Repression von Anfang an – und bis heute.
Wir sagen: Der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen – und natürlich kann geschossen werden.“Dieser Satz ist ein Programm, das im linken Denken bis heute im Hintergrund rauscht. Ulrike Meinhof definiert 1970 in der Anfangszeit der Roten Armee Fraktion (RAF) den geschraubt-gewalttätigen Ton des Untergrundes und stellt ungewollt die Bankrotterklärung aus für eine Bewegung, die sich kurz zuvor aufgemacht hatte, die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen – friedlich. Doch was 1967 in den USA mit der Sehnsucht nach „Love, Peace and Happieness“beginnt und im Mai 1968 in Paris „die Phantasie an die Macht“bringen will, endet in einer Blutspur, die die Bundesrepublik vor ihre schwerste innenpolitische Probe stellt.
Die harte Reaktion des Staates bestärkt die Solidarität bis weit ins bürgerlich-liberale Milieu hinein. Die in einer Studentenzeitung der Universität Göttingen geäußerte „klammheimliche Freude“angesichts der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und seiner Begleiter in Karlsruhe am 7. April zu Beginn der „Offensive 77“der RAF ist symptomatisch.
Die 68er-bewegung ist nicht nur Vorkämpferin von Gleichberechtigung und Teilhabe, sondern auch Brutstätte einer Gewalt, bei der es vor allem um die eigene Position geht. Während sich junge Menschen im Mainstream sorgen, ob sie „in oder out“sind, „Typ oder Spießer“, geht es um die Frage: „Mensch oder Schwein.“Die Entscheidung folgt einer Selbstermächtigung, die sich nicht an externen Maßstäben orientiert – so wie die spätere Raf-terroristin Gudrun Ensslin 1968 über die Richter sagt, die sie wegen der Frankfurter Kaufhausbrände verurteilen: „Sie können nicht tun, was sie wollen, denn sie wollen nur das, was sie sollen.“Noch 2010, als mit dem Verfahren gegen Verena Becker vor dem OLG Stuttgart einer der wohl letzten Raf-prozesse beginnt, verteilen Aktivisten vor dem Gerichtsgebäude Flugblätter: „Nichts ist vergessen – Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen!“Sich auf die richtige Seite zu stellen, sei „eine Sache der Würde, der Identität“.
Wir und der Feind. Dieseits und jenseits jenes Trennstrichs, den zu ziehen Mao Zedong gefordert hatte: Das Gefühl einer inneren Verbundenheit im Kampf gegen Kapitalismus und Repression bleibt die Richtschnur. „Theorie und Praxis der RAF sind nicht die unseren, aber wir stehen immer noch auf der gleichen Seite der Barrikade“, verkündet zum 50. Jahrestag der Todesnacht von Stammheim im Herbst 2017 die „Antifaschistische Linke International“ALI (Göttingen), nachzulesen im ehemaligen Sedblatt „Neues Deutschland“.
Die RAF ist Geschichte, doch sie inspiriert nach wie vor viele Linke, wenn auch mit vorsichtigem Abstand: Die Morde mögen falsch gewesen sein, das Ziel, ein verhasstes System in die Knie zu zwingen, besteht fort wie die inneren Widersprüche der Gesellschaft. Das klassische Feindbild „militärisch-industrieller Komplex“verblasst langsam, dafür kämpfen Linksextreme nun gegen Nazi-aufmärsche, Gentrifizierung und die Vertreibung aus bezahlbaren Wohnungen. Um zugezogene Hipster abzuschrecken, gehen Autos in Flammen auf – die Debatte über rechte (repressive) und linke (befreiende) Gewalt hält bis heute an, so wie die Unterscheidung zwischen schlechter (gegen Menschen) und guter Gewalt (gegen Sachen). Randale ist opportun, wo sich „die Mächtigen“treffen, und einmal mehr findet sich bei Ulrike Meinhof der passende Text – über eine Distanz von fast 50 Jahren hinweg: „Zündet man ein Auto an, ist das eine strafbare Handlung. Werden hunderte Autos angezündet, ist das eine politische Aktion.“
Es ist kein Zufall, dass der Philosoph Jürgen Habermas schon zu Zeiten der Studentenunruhen den 68ern, die aus der Pose moralischer Überlegenheit heraus argumentierten, „Linksfaschismus“vorgeworfen hat. Doch ob die Militanz im antiautoritären Gedankengut angelegt ist oder den Exzess einer guten Idee darstellt, ist so umstritten wie die Frage, ob der Sowjetstaat die notwendige Folge oder die Perversion eines humanistischen Marxismus war.
„Das rote Jahrzehnt“
Auf Dauer prägend ist jene kurze Phase, die der Historiker und ehemalige linke Aktivist Gerd Koenen „das rote Jahrzehnt“genannt hat: von den Polizeikugeln auf den unbewaffneten Studenten Benno Ohnesorg in der Krummen Straße in Berlin am 2. Juni 1967 bis zu den Schüssen der Stammheimer Todesnacht zum 18. Oktober 1977, in der die drei inhaftierten Raf-terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-carl Raspe sterben. Als der von der Boulvardpresse inspirierte Josef Bachmann am 11. April 1968 versucht, den Studentenführer Rudi Dutschke zu töten, steht auf einem Transparent: „BILD hat mitgeschossen.“Angesichts der Gewalt, die die 68er-bewegung begleitet, kursiert unter deren Kritikern seither das Bonmot „Adorno hat mitgeschossen“– geflissentlich übersehend, dass der feinsinnige Frankfurter Soziologe den revoltierenden Studenten ablehnend gegenüberstand.
Längst sind die Grünen zum politischen Arm jener sozialen Bewegungen geworden, die sich um Frieden, Frauen, Umwelt und den globalen Süden sorgen. Kaum noch ein Buchhändler überreicht mit verschwörerisch-aufmunterndem Blick („Wir kennen uns ja schon länger“) ein aufrührerisches Pamphlet. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, in den 70ern im Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) aktiv, ist ebenso im System angekommen wie der spätere Außenminister Joschka Fischer, einst Teil der Frankfurter Sponti-szene. Unzählige abgekühlte Marxisten und Maoisten suchen Frieden in der Esoterik.
Selbst die Sprache ist identisch
Und doch gibt es stets jene Minderheit, die sich zur Illegalität berufen fühlt. „Es ging darum, den ganzen Erkenntnisstand von 1967/68 historisch zu retten“, begründet Ulrike Meinhof 1970 die Gründung der RAF. Gruppen, die der Theorie weniger zugeneigt sind, interpretieren das Lebensgefühl der Hippies um: „High sein, frei sein, Terror muss dabei sein.“
Heute nennt sich das „erlebnisorientierte Gewalt“. Die Bilanz ist verheerend. Alleine die RAF ist verantwortlich für 33 Morde, im eigenen Umfeld finden bis zur Selbstauflösung 1998 insgesamt 24 Menschen den Tod. 2001 tritt in Berlin die „militante gruppe“(mg), der zahlreiche Brandanschläge zur Last gelegt werden, in Erscheinung. Selbst der Sprech ist geblieben: Im Juni 2005 schwadroniert die „mg“im autonomen Magazin „Interim“, die Tötung „zufällig in der Schussbahn stehender“Polizisten sei keine „Aktion“, sondern „kontraproduktiv“. Die Zeit straff geführter Kaderorganisationen wie der RAF ist einer Freizeit- und Wochenendmilitanz gewichen. „Gewaltbereiter Linksextremismus ist primär ein urbanes Phänomen“, heißt es beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BFV). Es gibt spontane Mitläufer und reisende Täter aus Frankreich, Spanien, Italien und Griechenland, Staaten, in denen der Anarchismus eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition hat.
Immer mehr Personen der auf gut 28 000 Mitglieder geschätzten deutschen Szene gelten als gewaltbereit: Für 2016 gibt das BFV die Zahl der Autonomen mit 6800 an – ein Plus von acht Prozent im Vergleich zu 2015. Statistisch geht die „PMK (politisch motivierte Kriminalität) links“allerdings zurück. Die Zahl der Delikte sinkt, von 2015 auf 2016 um 6,9 Prozent, die der Gewalttaten sogar um 25,3 Prozent. Die schlimmsten Taten der vergangenen Jahre gehen ohnehin auf das Konto der Neonazi-terrorzelle NSU. Die konnte ihre Morde unter den Augen des Staates begehen – auch weil der Feind in der Bundesrepublik lange Zeit nur links verortet wurde. Die spektakulären Krawalle am Rande politischer Großereignisse wie dem G20-gipfel in Hamburg – jener Stadt, die das BFV neben Berlin und Leipzig als Szeneschwerpunkt nennt – festigen diesen einseitigen Blick. Im Internet-blog „Lower Class Magazine“ist in einer analytischen Nachlese der Straßenschlachten von der „Illusion der Gewaltfreiheit“die Rede, verbunden mit einer Aufforderung: „Militanz – eine Worthülse, die es zu füllen gilt“. Nicht fehlen darf die Abgrenzung zum „bürgerlichen Verständnis von Gewalt“. Für die Autoren des Textes: „Krieg, Knäste und Hartz IV.“Keine Frage, der Kampf geht weiter.
Das Gefühl einer inneren Verbundenheit im Kampf gegen den Kapitalismus bleibt die Richtschnur.