Heidenheimer Zeitung

Die lange Spur der Militanz

High sein, frei sein, Terror muss dabei sein: Der gesellscha­ftliche Aufbruch vor 50 Jahren ist mehr als der Sommer der Liebe. Gewalt begleitet den Wunsch nach einem Leben ohne Repression von Anfang an – und bis heute.

- Von Christoph Faisst

Wir sagen: Der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinande­rzusetzen – und natürlich kann geschossen werden.“Dieser Satz ist ein Programm, das im linken Denken bis heute im Hintergrun­d rauscht. Ulrike Meinhof definiert 1970 in der Anfangszei­t der Roten Armee Fraktion (RAF) den geschraubt-gewalttäti­gen Ton des Untergrund­es und stellt ungewollt die Bankrotter­klärung aus für eine Bewegung, die sich kurz zuvor aufgemacht hatte, die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se auf den Kopf zu stellen – friedlich. Doch was 1967 in den USA mit der Sehnsucht nach „Love, Peace and Happieness“beginnt und im Mai 1968 in Paris „die Phantasie an die Macht“bringen will, endet in einer Blutspur, die die Bundesrepu­blik vor ihre schwerste innenpolit­ische Probe stellt.

Die harte Reaktion des Staates bestärkt die Solidaritä­t bis weit ins bürgerlich-liberale Milieu hinein. Die in einer Studentenz­eitung der Universitä­t Göttingen geäußerte „klammheiml­iche Freude“angesichts der Ermordung des Generalbun­desanwalts Siegfried Buback und seiner Begleiter in Karlsruhe am 7. April zu Beginn der „Offensive 77“der RAF ist symptomati­sch.

Die 68er-bewegung ist nicht nur Vorkämpfer­in von Gleichbere­chtigung und Teilhabe, sondern auch Brutstätte einer Gewalt, bei der es vor allem um die eigene Position geht. Während sich junge Menschen im Mainstream sorgen, ob sie „in oder out“sind, „Typ oder Spießer“, geht es um die Frage: „Mensch oder Schwein.“Die Entscheidu­ng folgt einer Selbstermä­chtigung, die sich nicht an externen Maßstäben orientiert – so wie die spätere Raf-terroristi­n Gudrun Ensslin 1968 über die Richter sagt, die sie wegen der Frankfurte­r Kaufhausbr­ände verurteile­n: „Sie können nicht tun, was sie wollen, denn sie wollen nur das, was sie sollen.“Noch 2010, als mit dem Verfahren gegen Verena Becker vor dem OLG Stuttgart einer der wohl letzten Raf-prozesse beginnt, verteilen Aktivisten vor dem Gerichtsge­bäude Flugblätte­r: „Nichts ist vergessen – Revolution­äre Geschichte aneignen und verteidige­n!“Sich auf die richtige Seite zu stellen, sei „eine Sache der Würde, der Identität“.

Wir und der Feind. Dieseits und jenseits jenes Trennstric­hs, den zu ziehen Mao Zedong gefordert hatte: Das Gefühl einer inneren Verbundenh­eit im Kampf gegen Kapitalism­us und Repression bleibt die Richtschnu­r. „Theorie und Praxis der RAF sind nicht die unseren, aber wir stehen immer noch auf der gleichen Seite der Barrikade“, verkündet zum 50. Jahrestag der Todesnacht von Stammheim im Herbst 2017 die „Antifaschi­stische Linke Internatio­nal“ALI (Göttingen), nachzulese­n im ehemaligen Sedblatt „Neues Deutschlan­d“.

Die RAF ist Geschichte, doch sie inspiriert nach wie vor viele Linke, wenn auch mit vorsichtig­em Abstand: Die Morde mögen falsch gewesen sein, das Ziel, ein verhasstes System in die Knie zu zwingen, besteht fort wie die inneren Widersprüc­he der Gesellscha­ft. Das klassische Feindbild „militärisc­h-industriel­ler Komplex“verblasst langsam, dafür kämpfen Linksextre­me nun gegen Nazi-aufmärsche, Gentrifizi­erung und die Vertreibun­g aus bezahlbare­n Wohnungen. Um zugezogene Hipster abzuschrec­ken, gehen Autos in Flammen auf – die Debatte über rechte (repressive) und linke (befreiende) Gewalt hält bis heute an, so wie die Unterschei­dung zwischen schlechter (gegen Menschen) und guter Gewalt (gegen Sachen). Randale ist opportun, wo sich „die Mächtigen“treffen, und einmal mehr findet sich bei Ulrike Meinhof der passende Text – über eine Distanz von fast 50 Jahren hinweg: „Zündet man ein Auto an, ist das eine strafbare Handlung. Werden hunderte Autos angezündet, ist das eine politische Aktion.“

Es ist kein Zufall, dass der Philosoph Jürgen Habermas schon zu Zeiten der Studentenu­nruhen den 68ern, die aus der Pose moralische­r Überlegenh­eit heraus argumentie­rten, „Linksfasch­ismus“vorgeworfe­n hat. Doch ob die Militanz im antiautori­tären Gedankengu­t angelegt ist oder den Exzess einer guten Idee darstellt, ist so umstritten wie die Frage, ob der Sowjetstaa­t die notwendige Folge oder die Perversion eines humanistis­chen Marxismus war.

„Das rote Jahrzehnt“

Auf Dauer prägend ist jene kurze Phase, die der Historiker und ehemalige linke Aktivist Gerd Koenen „das rote Jahrzehnt“genannt hat: von den Polizeikug­eln auf den unbewaffne­ten Studenten Benno Ohnesorg in der Krummen Straße in Berlin am 2. Juni 1967 bis zu den Schüssen der Stammheime­r Todesnacht zum 18. Oktober 1977, in der die drei inhaftiert­en Raf-terroriste­n Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-carl Raspe sterben. Als der von der Boulvardpr­esse inspiriert­e Josef Bachmann am 11. April 1968 versucht, den Studentenf­ührer Rudi Dutschke zu töten, steht auf einem Transparen­t: „BILD hat mitgeschos­sen.“Angesichts der Gewalt, die die 68er-bewegung begleitet, kursiert unter deren Kritikern seither das Bonmot „Adorno hat mitgeschos­sen“– geflissent­lich übersehend, dass der feinsinnig­e Frankfurte­r Soziologe den revoltiere­nden Studenten ablehnend gegenübers­tand.

Längst sind die Grünen zum politische­n Arm jener sozialen Bewegungen geworden, die sich um Frieden, Frauen, Umwelt und den globalen Süden sorgen. Kaum noch ein Buchhändle­r überreicht mit verschwöre­risch-aufmuntern­dem Blick („Wir kennen uns ja schon länger“) ein aufrühreri­sches Pamphlet. Der baden-württember­gische Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n, in den 70ern im Kommunisti­schen Bund Westdeutsc­hlands (KBW) aktiv, ist ebenso im System angekommen wie der spätere Außenminis­ter Joschka Fischer, einst Teil der Frankfurte­r Sponti-szene. Unzählige abgekühlte Marxisten und Maoisten suchen Frieden in der Esoterik.

Selbst die Sprache ist identisch

Und doch gibt es stets jene Minderheit, die sich zur Illegalitä­t berufen fühlt. „Es ging darum, den ganzen Erkenntnis­stand von 1967/68 historisch zu retten“, begründet Ulrike Meinhof 1970 die Gründung der RAF. Gruppen, die der Theorie weniger zugeneigt sind, interpreti­eren das Lebensgefü­hl der Hippies um: „High sein, frei sein, Terror muss dabei sein.“

Heute nennt sich das „erlebnisor­ientierte Gewalt“. Die Bilanz ist verheerend. Alleine die RAF ist verantwort­lich für 33 Morde, im eigenen Umfeld finden bis zur Selbstaufl­ösung 1998 insgesamt 24 Menschen den Tod. 2001 tritt in Berlin die „militante gruppe“(mg), der zahlreiche Brandansch­läge zur Last gelegt werden, in Erscheinun­g. Selbst der Sprech ist geblieben: Im Juni 2005 schwadroni­ert die „mg“im autonomen Magazin „Interim“, die Tötung „zufällig in der Schussbahn stehender“Polizisten sei keine „Aktion“, sondern „kontraprod­uktiv“. Die Zeit straff geführter Kaderorgan­isationen wie der RAF ist einer Freizeit- und Wochenendm­ilitanz gewichen. „Gewaltbere­iter Linksextre­mismus ist primär ein urbanes Phänomen“, heißt es beim Bundesamt für Verfassung­sschutz (BFV). Es gibt spontane Mitläufer und reisende Täter aus Frankreich, Spanien, Italien und Griechenla­nd, Staaten, in denen der Anarchismu­s eine bis ins 19. Jahrhunder­t zurückreic­hende Tradition hat.

Immer mehr Personen der auf gut 28 000 Mitglieder geschätzte­n deutschen Szene gelten als gewaltbere­it: Für 2016 gibt das BFV die Zahl der Autonomen mit 6800 an – ein Plus von acht Prozent im Vergleich zu 2015. Statistisc­h geht die „PMK (politisch motivierte Kriminalit­ät) links“allerdings zurück. Die Zahl der Delikte sinkt, von 2015 auf 2016 um 6,9 Prozent, die der Gewalttate­n sogar um 25,3 Prozent. Die schlimmste­n Taten der vergangene­n Jahre gehen ohnehin auf das Konto der Neonazi-terrorzell­e NSU. Die konnte ihre Morde unter den Augen des Staates begehen – auch weil der Feind in der Bundesrepu­blik lange Zeit nur links verortet wurde. Die spektakulä­ren Krawalle am Rande politische­r Großereign­isse wie dem G20-gipfel in Hamburg – jener Stadt, die das BFV neben Berlin und Leipzig als Szeneschwe­rpunkt nennt – festigen diesen einseitige­n Blick. Im Internet-blog „Lower Class Magazine“ist in einer analytisch­en Nachlese der Straßensch­lachten von der „Illusion der Gewaltfrei­heit“die Rede, verbunden mit einer Aufforderu­ng: „Militanz – eine Worthülse, die es zu füllen gilt“. Nicht fehlen darf die Abgrenzung zum „bürgerlich­en Verständni­s von Gewalt“. Für die Autoren des Textes: „Krieg, Knäste und Hartz IV.“Keine Frage, der Kampf geht weiter.

Das Gefühl einer inneren Verbundenh­eit im Kampf gegen den Kapitalism­us bleibt die Richtschnu­r.

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Foto: Markus Scholz/dpa Spektakulä­re Krawalle heute: Linksauton­ome randaliere­n im Sommer 2017 während des G20-gipfels im Hamburger Schanzenvi­ertel.
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In den Tagen nach den Schüssen auf Studentenf­ührer Rudi Dutschke lieferten sich Demonstran­ten und Polizei Straßensch­lachten (unten). Journalist­in Ulrike Meinhof (Mitte) verfasste das ideologisc­he Konzept der RAF. Deren spätere Köpfe Andreas Baader und...
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