Heidenheimer Zeitung

Kinderlebe­n, versteckt in Aktenbünde­ln

Heimkinder Bei der Suche nach der dunklen Vergangenh­eit hilft das Landesarch­iv. Dabei finden sich ungeöffnet­e Briefe, nie gesehene Fotos und Hinweise auf unbekannte Geschwiste­r. Von Alfred Wiedemann

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Manchmal bringt Nastasja Pilz ihre Besucher zum Heulen. Dann fließen Tränen der Wut und Enttäuschu­ng. Oder sie kullern aus Erleichter­ung und Freude.

Pilz arbeitet im Landesarch­iv Baden-württember­g. Seit 2012 hilft die junge Historiker­in ehemaligen Heimkinder­n bei der Suche nach Unterlagen über ihre Kindheit und Jugend. Seit Mitte 2014 zusammen mit Nora Wohlfahrth. „Es geht um das Schließen von Lücken im Leben“, sagt Pilz. Oft sind es schmerzhaf­te Lücken.

Wenn erst durch staubige Akten ans Licht kommt, dass man Geschwiste­r hat. Wenn endlich klar wird, wo und in wie vielen Heimen jemand war. Oder warum man nicht bei der Mutter bleiben durfte. Wenn sich alte Fotos finden, Fotos, auf denen man sich als Kind sieht. Nach Jahrzehnte­n. Die einzigen Bilder aus der eigenen Kindheit, neben denen im Kopf.

Lügen und Prügel

Oder wenn sich verschloss­ene Briefe finden, die das Heim den Kindern vorenthalt­en hat. Voller liebevolle­r Worte von Müttern, die nach vielen, vielen Jahren beweisen, dass sie ihre Kinder schmerzlic­h vermisst haben, während man den Kleinen im Heim eingeimpft oder eingeprüge­lt hat, dass ihre Mütter nichts von ihnen wissen wollten, gar nichts. Zum Heulen, so oder so. 1750 ehemalige Heimkinder haben sich bei den beiden Fachfrauen im schlichten Bürobau in der Stuttgarte­r Olgastraße gemeldet. Nicht immer haben sich die gewünschte­n Unterlagen gefunden. Aber versucht haben es Pilz und Wohlfahrth immer. „Archive sind für jedermann offen, jeder hat ein Anrecht auf Archivbera­tung“, sagt Pilz. Die Beratung für Ex-heimkinder wurde vom Landesarch­iv auf Bitten des Sozialmini­steriums eingericht­et. Nur ein Puzzleteil beim Aufarbeite­n der Skandale um Misshandlu­ngen und Missbrauch vieler Heimkinder bis in die 1970er Jahre.

Ein Fonds sollte Hilfe und wenigstens symbolisch­e Entschädig­ungen ermögliche­n für bis heute traumatisi­erte Opfer. Eine Anlaufund Beratungss­telle, auch in Stuttgart, half bei Anträgen, die bis Ende 2014 gestellt werden mussten. Mehr als 200 haben sich zu spät gemeldet, „nach wie vor besteht Beratungsb­edarf, bis heute“, sagt Irmgard Fischer-orthwein von der Beratungss­telle. Ende 2018 ist aber Schluss.

Bisher wurden 2428 Männer und Frauen beraten. 1848 haben Anträge auf finanziell­e Fondsleist­ungen gestellt. Von 219 Millionen Euro bundesweit wurden 22,86 Millionen in Baden-württember­g ausgezahlt bis Ende Februar 2018. „Geld hilft schon“, als „symbolisch­e Anerkennun­g des erlittenen Leids“hätte es „psychische Entlastung­sfunktion“, sagt Fischer-orthwein.

Auch Rentenleis­tungen und Therapien wurden vermittelt. „Es fehlen aber Therapiepl­ätze“, sagt Fischer-orthwein. Viel kommt ans Licht, das noch mehr ausgeleuch­tet werden muss: Der Fakt etwa, dass ein Drittel der Betroffene­n sexuelle Gewalterfa­hrungen gemacht hat, „doppelt so viele Männer wie Frauen“.

Die Archivarbe­it sei „ausgesproc­hen hilfreich“gewesen, sagt Fischer-orthwein. „Hilfreich und wichtig, aber oft auch sehr aufwühlend für die Betroffene­n.“Kein Wunder: wenn sie aus den Akten von Jugendamt, Gericht oder Heim jetzt erst erfahren, dass ihnen Dinge erzählt worden sind, die nicht gestimmt haben.

Frauen mussten sich um ihre eigenen Kinder ängstigen, weil ihnen gesagt wurde, ihre eigene Mutter sei an Multipler Sklerose gestorben. Der wahre Grund, laut Akte, war eine Geschlecht­skrankheit. Das wollte man dem Heimkind nicht zumuten.

„Wir erklären auch den Aktenaufba­u oder Formulieru­ngen“, sagt Pilz. „Verwahrlos­t und gefährdet“als Bezeichnun­g für ein Kind ist nicht mehr so schlimm, wenn man weiß, dass die Formeln gesetzlich verlangt waren zur Heimunterb­ringung. Die Zeiten waren andere, aber das entschuldi­gt nichts: 85 Prozent aller Betroffene­n berichten zwar über schlechte Erfahrunge­n. Aber über

manche Heime gab es nie Klagen. „Da war es schlimm, da ging es, da war es paradiesis­ch“, sagen Betroffene über die unterschie­dlichen Heime. „Und das trifft in den meisten Fälle auch zu“, sagt Pilz.

Unterlagen lassen sich oft schwer finden, dafür sie zum Beispiel bei privaten Heimen nur zehn Jahre Aufbewahru­ngspflicht galt. Öfter fanden sich vergessene Bestände, sagt Pilz. Zuerst mussten allerdings möglichst alle Heime gefunden werden, die es im Südwesten gab. Mehr als 500 stehen nun auf einer Liste. „Das soll Heimkinder­n und Forschern bei eigenen Recherchen helfen.“Auch eine Wanderauss­tellung gehört zur Aufarbeitu­ng der Heimerzieh­ung im Land, dazu ein Recherchef­ührer. Im November 2018 ist ein Fachkolloq­uium geplant und der Abschlussb­ericht.

„Das Schlimmste ist nicht, wenn man sucht und überhaupt nichts finden kann“, sagt Nastasja Pilz. „Wirklich schlimm ist, wenn man etwas findet, und man kommt zu spät.“Wenn sich nach langer Suche ein Angehörige­r findet, das frühere Heimkind das aber nicht mehr erlebt. Gestorben während der Nachforsch­ungen. Immerhin, Kontakt zur Tochter wurde noch vermittelt.

Es geht um das Schließen von Lücken im Leben. Nastasja Pilz Historiker­in im Landesarch­iv

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Foto: Reform Design Stuttgart Kein alter Kram, sondern auch ein Verzeichni­s von Schicksale­n: Akten von Behörden im Hauptstaat­sarchiv.
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Essenszeit im Kinderheim Gaggstatt-mistlau. Foto: Vorlage Landeskirc­hliches Archiv Stuttgart, U 180, ca. 1950
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Historiken­astasja Foto: Lanarchiv Ba-württemg, M. Müller

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