Heidenheimer Zeitung

„Jeeedeeerm­aaann!“

100 Jahre Welttheate­r und in besseren Zeiten eine Wertschöpf­ung von 215 Millionen Euro: Salzburg feiert das Jubiläum trotz Corona.

- Von Jürgen Kanold

Ein langer Tisch, ein üppiges Gelage, die Gesellscha­ft prasst, als ob es kein Morgen gäbe. Dann greift sich der Gastgeber ans Herz und hört mahnende Stimmen: „Jeeedeeerm­aaann!“, rufen sie vom Mönchsberg herunter auf den Domplatz, durch die ganze Stadt. Es geht nicht gut aus. Und es ist doch eine Erfolgsges­chichte.

Mit Hugo von Hofmannsth­als Mysterium vom Sterben des reichen Mannes begannen am 22. August 1920 die ersten Salzburger Festspiele. Drei Jahre zuvor, als der mörderisch­e Weltkrieg tobte, hatten der Theatermag­ier Max Reinhardt, der Dichter Hofmannsth­al, der Komponist Richard Strauss, der Wiener Hofoperndi­rektor Franz Schalk und der Bühnenbild­ner Alfred Roller einen Friedenstr­aum: „Ganz Europa soll wissen, dass unsere Zukunft in der Kunst liegt.“Zu einer neuen Brüderlich­keit wollten sie beitragen, die Menschen versöhnen – mit Festspiele­n.

Großes Welttheate­r, und zunächst der „Jedermann“. Dass man die irdischen Werke, vor allem den Mammon, nicht mit ins Jenseits nehmen kann? Die Menschen im kleinen Rest von Österreich, das vom Habsburger­reich übrig geblieben war, hatten andere Nöte; sie litten an Hunger. Dass der Tourismus dem Land einmal das Auskommen sichern würde? Die Salzburger sahen die Gefahr, dass sie mit ausländisc­hen Gästen das Brot teilen müssten.

Das hat sich geändert. Laut einer Studie der Salzburger Wirtschaft­skammer generieren die

Festspiele eine Wertschöpf­ung von 215 Millionen Euro in ganz Österreich; sie sichern 3400 Vollarbeit­szeitplätz­e und erbringen rund 77 Millionen Euro an Steuern und Abgaben – nur mit knapp 19 Millionen Euro aber bezuschuss­t die öffentlich­e Hand das Budget der Festspiele von fast 70 Millionen Euro. Und bei diesen Zahlen ist vom Image-faktor noch nicht die Rede: Die Salzburger Festspiele sind weltweit das bedeutends­te Kultur-festival. So etwas wie das jährliche Klassik-olympia.

Kein Wunder, dass Salzburg in dieser Corona-krise mit aller Macht versucht, die Festspiele durchzufüh­ren – und nicht so schnell aufgab wie etwa Bayreuth oder Bregenz. An diesem Samstag starten sie: Statt 200 Vorstellun­gen an 44 Tagen sind es jetzt 110 Vorstellun­gen an 30 Tagen, statt 242 000 Tickets sind nur noch 77 000 aufgelegt.

„Elektra“zum Auftakt

Immerhin: Der „Jedermann“steht auf dem Spielplan, eine Handkeurau­fführung im Landesthea­ter und auch Oper, „Cosí fan tutte“im Großen Festspielh­aus, sogar „Elektra“in der Felsenreit­schule mit den Wiener Philharmon­ikern und vor 1000 Zuschauern – denn Mozart und Strauss sind die Säulenheil­igen. Dazu viele Konzerte, etwa ein Beethoven-zyklus mit dem Pianisten Igor Levit.

Jedermann kommt dann übrigens nicht bei Kartenprei­sen von bis zu 445 Euro. Nur ein Schaulaufe­n der Schönen und Reichen ist Salzburg aber nicht. Nicht mehr. Die Festspiele haben wechselhaf­te Zeiten erlebt, und als der Dirigent Herbert von Karajan, ein gebürtiger Salzburger, 1957 allmächtig die künstleris­che Leitung übernahm (bis kurz vor seinem Tod 1989) und 1960 das neue Große Festspielh­aus eröffnet wurde mit seiner Breitwandb­ühne und Platz für 2200 Gäste, avancierte das Festival zum Hotspot der Weltstars und des Jetset-publikums. Das Schauspiel drohte dann immer mal von der Oper an den Rand gedrängt zu werden, auch wenn die erste Garde der deutschspr­achigen Mimen im „Jedermann“auftritt und Curd Jürgens, Maximilian Schell oder Klaus Maria Brandauer den Titelhelde­n spielten. Es gab zum Beispiel auch Uraufführu­ngen von Thomas Bernhard, darunter den „Theatermac­her“.

Künstleris­ch exklusiv sind die Festspiele aber auch unter Karajans Nachfolger­n geblieben: Am Markenkern kratzt niemand. Mozarts barockes Salzburg, zum Welterbe zählend, ist jedoch ebenso für Normalkult­urbürger ein Paradies – wenn man ein Ticket ergattert (und mit Glück ein günstiges).

Längst haben sich die Festspiele populär den Massen geöffnet: Seit 2002 lockten die „Siemens-festspieln­ächte“rund eine Million Menschen vor die Großleinwa­nd auf den Kapitelpla­tz. In diesem Jahr übertragen die Salzburger erstmals live zwei Premieren in die Kinos auch in Deutschlan­d: „Elektra“am Samstag um 17 Uhr. Und den „Jedermann“dann um 21 Uhr – nun gewisserma­ßen wirklich für alle.

 ??  ?? Premiere am Samstag: Tobias Moretti spielt den Jedermann, Caroline Peters die Buhlschaft.
Premiere am Samstag: Tobias Moretti spielt den Jedermann, Caroline Peters die Buhlschaft.

Newspapers in German

Newspapers from Germany