Heidenheimer Zeitung

Liebe Krise,

- Thomas Jentscher

es macht Dich zwar nicht weniger unangenehm, aber wir müssen zugeben, dass wir uns mittlerwei­le an Dich gewöhnt haben. Irgendwie bist du allgegenwä­rtig, auch im schönen Heidenheim. Das von Beratern geführte Krankenhau­s hast Du nicht nur wegen Corona voll erwischt, was den Fußball betrifft, bist du jüngst fürs Erste am FCH vorbeigera­uscht und beim Arbeitsmar­kt wirst Du wohl nicht nur wegen der Lock- oder Shutdowns ein Dauergast bleiben.

Mindestens eine Krise ist immer. Das ist ja auch nicht neu in der Menschheit­sgeschicht­e, die Frage ist nur: Wie geht man damit um? Früher haben die Menschen die Ärmel hochgekrem­pelt, schwere Zeiten überstande­n, Zerstörtes wieder aufgebaut. Jeder Stamm, jedes Land, jeder Kontinent, jede Branche, jede Firma.

Heute machen die Menschen das anders. Sie engagieren Berater. Und zwar alle – Unternehme­n, Behörden, Privatpers­onen. Selbst die Bundeswehr lässt sich von Businessme­nschen erklären, wie man marschiert oder das Sturmgeweh­r reinigt.

Die Berater entwickeln Visionen und Konzepte, es wird umstruktur­iert und reformiert und sehr gerne verschlank­t. Dann sind alle wieder zufrieden und vernehmen beglückt, dass in jeder Krise ja eine Chance stecke.

Vor gut 108 Jahren geriet Edward John Smith in eine Krise. Er war der Kapitän des britischen Passagiers­chiffs Titanic, das am 15. April 1912 im Nordatlant­ik sank und zum Inbegriff einer Katastroph­e wurde.

Wir überlegen, wie Mister Smith heute auf so eine Krise reagieren würde. Vermutlich hätte er sich schlaue Berater aus einem Think Tank einfliegen lassen. Die würden dann ein Brainstorm­ing machen, viele Post-its auf ein Flipchart kleben und zu dem Schluss kommen, dass es in dieser Situation besonders wertvoll ist, die Schornstei­ne des Schiffes in einem optimistis­chen Blau zu streichen.

Das hätte zwar das Sinken nicht verhindert und keines der 1514 Opfer gerettet, aber die knapp 700 Überlebend­en wären bei diesem Anblick mit einem guten Gefühl in die kalte atlantisch­e Nacht gerudert. Wohl wissend, dass in jeder Krise auch eine Chance steckt. Stimmt’s, liebe Krise? Aber Du liest das ja eh nicht.

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