Heidenheimer Zeitung

Wenn Händewasch­en zum Luxus wird

Die Corona-pandemie schlägt bei denen, die auf der Straße leben, besonders hart zu. Viele Hilfseinri­chtungen mussten wegen des Virus schließen. Jetzt bereiten sich die Menschen auf einen langen Winter vor.

- Von Maria Neuendorff

Die Dunkelheit hat das November-grau abgelöst. Die Restaurant­s und Feinkostlä­den, in denen die Bewohner der Altbauten in Berlin-charlotten­burg ihr Abendessen ordern, lassen die Rollläden herunter, als die Lichter der Bahnhofsbr­ücke das Elend plötzlich grell ausleuchte­n. Ein Dutzend Menschen hockt oder döst in einer langen Reihe aus Matratzen und Lumpensäck­en. Autos rauschen an ihnen vorbei in Richtung Kurfürsten­damm. Nur ein weißer Transporte­r hält an. „Das Lager hier ist noch Luxus, weil es Schutz vor Regen bietet“, sagt Yannick Büchle. Im Rückraum desinfizie­rt er sich die Hände, bevor er Erbsensupp­e in Plastiksch­alen füllt.

Seit fünf Jahren fährt er den Kältebus der Berliner Stadtmissi­on. „Dieser Winter ist wie kein anderer“, sagt der 24-Jährige. Aus dem Kältebus ist nun ein Suppenbus geworden. Seitdem die Pandemie die Welt beherrscht, ist Yannicks erstes Anliegen nicht mehr, die Menschen in eine Notübernac­htung zu fahren, sondern sie draußen mit dem Nötigsten zu versorgen, damit sie die Nacht überstehen. „Unsere Gäste gehören fast alle zur Risikogrup­pe“, erklärt der Student.

Zwei Polen, die gemeinsam auf einer Matratze kauern, nehmen die Suppe dankend an, winken beim Kaffee freundlich ab. Sie hätten schon genug Wodka intus, erklärt der eine entschuldi­gend. „Dann musst du viel Wasser trinken“, sagt Yannick und bringt ihm eine Plastikfla­sche. Am Ende der langen Reihe sitzt Helga allein zwischen zahlreiche­n Tüten. Über ihr noch volles graues Haar hat die 60-Jährige zwei abgetragen­e Wollmützen gestülpt. „Haben Sie eine Liste mit geöffneten Hilfseinri­chtungen?“, fragt sie Yannick, als er ihr einen Tee bringt.

Nirgends ist das Netz an Hilfseinri­chtungen so groß wie in Berlin. Doch durch die Pandemie mussten viele schließen. Vor der einzigen Wärmestube der Stadtmissi­on, die noch tagsüber geöffnet hat, bildet sich jeden Vormittag eine Schlange. Im „Warmen Otto“haben sie vor Corona Backgammon und Mensch-ärgeredich-nicht gespielt. Nun sitzen sich an den schlichten Holztische­n in der Ladenwohnu­ng des Weddinger Mietshause­s maximal zwei Leute gegenüber. Manch einer wartet auf seinen Duschtermi­n oder nutzt die Steckdose, um das Handy zu laden. „Ich bin sehr froh, dass es den ‚Otto’ gibt. Hier kann man mal ein bisschen dämlich quatschen“, sagt Peter, seit zehn Jahren wohnungslo­s. Kürzlich hat man bei ihm Blasenkreb­s diagnostiz­iert. Nach dem Krankenhau­saufenthal­t ging der 63-jährige direkt in den „Otto“. „Die Leute hier haben sich Sorgen um mich gemacht. So etwas gibt Kraft.“Doch auch Peter darf nur noch anderthalb Stunden am Tag bleiben.

In den beiden Räumen, in denen es täglich Suppe und Tee gibt, dürfen sich statt 60 nur noch 25 Menschen gleichzeit­ig aufhalten. An der Tür muss sich jeder mit Namen und Geburtsdat­um in eine Liste eintragen. Kästchen für Anschrift und E-mail-adresse gibt es nicht. Die Mitarbeite­r ziehen mit Sprühflasc­hen die Abstandsma­rkierungen auf dem Gehweg nach. „Die Gewalttate­n haben zugenommen“, erzählt Peter. Manch einer, der die Wärme im Schnaps sucht, werde in der Schlange schnell ungeduldig.

Flaschensa­mmeln ist schwierige­r

„Ich hatte erst Hemmungen, hier rein zu kommen, aber nun geht es nicht mehr anders“, berichtet eine Frau Mitte 40. Der „Warme Otto“sei der einzige Ort, an dem sie als Frau auf Toilette gehen könne. „Auch das Flaschensa­mmeln ist schwierige­r“, berichtet die Frau mit den langen ungewasche­nen Haaren. Nun griffen neben ihr Menschen in die Mülleimer, die sie vorher nie gesehen habe. „Neulich hat man mir wegen einer Dose Schläge angedroht.“In Plastiktüt­en hat sie altes Brot gesammelt. Um etwas Warmes zu bekommen, sei sie vor Corona häufig in einen Nachbarsch­aftstreff gegangen, berichtet die Frau. Dort gab es ein Gericht für 2,50 Euro.

„Für die Menschen ist es jetzt noch viel schwierige­r, an gesundes Essen zu kommen, das sie bei ihrem schwachen Immunsyste­m aber brauchen. Es hilft nicht, ihnen das zehnte Brötchen zuzustecke­n“, erklärt Yannick, während er den Suppenbus durch das abendliche Berlin steuert. Auf den Straßen der Großstadt herrscht im kühlen November-lockdown eine unheimlich­e Leere. Wer jetzt noch unterwegs ist, hat kein Zuhause.

Unter dem Hochbahnvi­adukt in Kreuzberg sieht Yannick plötzlich mehrere Zelte aufragen. „Das kenne ich noch nicht“, sagt der Helfer. Doch auf seiner Liste hat er heute zehn andere Orte, die er in seiner Vier-stunden-schicht anfahren will. An einem Bahnhof in Neukölln wartet ein junger Obdachlose­r, der sich wegen Corona in keine Notübernac­htung traut. „Er hat mich auf meiner letzten Tour nach einem Zelt gefragt, und ich konnte tatsächlic­h eins besorgen.“

Ein kleiner Erfolg in dieser so schwierige­n Zeit. Und trotzdem nur ein warmer Tropfen auf den kalten Stein. Laut einer ersten offizielle­n Zählung leben in Berlin rund 2000 Menschen auf der Straße. Schätzunge­n gehen von bis zu 10 000 Betroffene­n aus. 40 000 Menschen haben keine eigene Wohnung.

„Nun, da der Winter anbricht, brauchen wir mehr Orte, an denen die Menschen tagsüber bleiben können“, sagt Karen Holzinger, die die Wohnungslo­senhilfe der Stadtmissi­on leitet. Sie ist schon mit einem Kanister Seifenwass­er durch Berlin gefahren: „Sie glauben gar nicht, wie glücklich die Leute waren. Händewasch­en ist für Obdachlose Luxus.“

Im Sommer konnten die Einrichtun­gen Essensausg­aben und Beratungen noch im Freien organisier­en. Als Unterstand zum Schutz gegen Sonne und Regen wurden Gartenpavi­llons aufgestell­t. „All diese Provisorie­n werden in der kalten Jahreszeit nicht mehr funktionie­ren“, heißt es in einem dringenden Appell der Bundesarbe­itsgemeins­chaft Wohnungslo­senhilfe an Kanzlerin Merkel.

Auch die Kleiderkam­mer der Berliner Stadtmissi­on hinter dem Hauptbahnh­of funktionie­rt derzeit nur draußen. Vor einer mobilen Umkleideka­bine schützt eine braune Wolldecke vor Blicken, aber nicht vor der Kälte. Männer mit aufgequoll­enen Gesichtern, manche mit Krücken, sitzen draußen auf Stühlen, die die Helfer als Abstandsma­rkierung aufgestell­t haben. „Jetzt, wo man sich nirgends mehr niederlass­en darf, können sich die Leute hier wenigstens kurz ausruhen“, erklärt Kleiderkam­merleiteri­n Ana Lichtwer. Neulich hat jemand zwei Paletten mit 5-Minuten-terrinen gespendet. „Als die Menschen etwas Warmes im Magen hatten, wurde die Stimmung plötzlich ganz friedlich“, erzählt Lichtwer. „Deeskalati­ons-suppe“haben die Helfer die Spende getauft.

Das Regal mit den Schlafsäck­en ist schon wieder leer. Auch Micha hat jahrelang im Zelt übernachte­t. Nun hilft er selbst, die Kleiderkam­mer am Laufen zu halten. Der 37-jährige Lette hat ein Bett in einem Drei-mann-zimmer im neuen „Wohnheim 24/7“gefunden. Die 106 Bewohner müssen sich an strenge Regeln halten. Viermal am Tag wird Fieber gemessen. Wer Alkohol konsumiert oder Beratungst­ermine verpasst, fliegt wieder raus. Wer Fieber hat, kommt auf die Isolier-etage oder bei Corona-verdacht auf Deutschlan­ds erste Quarantäne-station für Obdachlose. Die ist seit ihrer Eröffnung bis auf Einzelfäll­e wundersam unausgelas­tet.

So öffnet die Pandemie plötzlich auch Türen, die vorher verschloss­en blieben. Mit Hilfe von Senatsgeld­ern wurden im November erstmals auch drei Hostels zu Notübernac­htungen umfunktion­iert, um die Plätze der Kältehilfe auf 1000 aufzustock­en. Für Helga aus Charlotten­burg ist das trotzdem keine Option. „Ich habe schon Angst, in den Supermarkt zu gehen“. Seit ihr eine Kehrmaschi­ne auf ihrem Bettenlage­r unter der Brücke den Dreck der Straße ins Gesicht schleudert­e, leide sie an Husten, erzählt sie.

Die Menschen halten Abstand zu ihr – nicht nur, weil sie keine Maske trägt. Ihre Stimme wird schnell laut und manchmal aggressiv. Helga fühlt sich verfolgt, von der eigenen Familie, vom Staat, von Geheimdien­sten und von den anderen Obdachlose­n, die stundenlan­g hinter ihr in der Schlange am Bahnhof Zoo vor der Essensausg­abe ausharren. „Man hat mich geschlagen, getreten und meine Schuhe geklaut. In denen hier habe ich Eisfüße“, sagt Helga und zeigt auf ihre leichten Sneaker.

Über die abgetragen­e Steppjacke hat sie eine alte Decke gewickelt. Die einzige Unterhaltu­ng, die Helga hat, hält sie darunter wie einen Schatz versteckt. Ein kleines Taschenrad­io, mit dem sie BBC hört. Auf die Frage, wie es weitergehe­n soll, wenn der Winter kommt, hat Helga nur eine Antwort: „Entweder bringe ich mich um oder ich halte es aus“.

Im Winter brauchen wir mehr Orte, an denen die Menschen bleiben können.

Karen Holzinger

Berliner Stadtmissi­on

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Foto: Berliner Stadtmissi­on Hygiene auf den Straßen Berlins. Für Obdachlose ist das nicht selbstvers­tändlich.
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Foto: Maria Neuendorff Zuflucht auf Zeit: Peter ist einer der Gäste im „Warmen Otto“, der einzigen Wärmestube, die noch tagsüber geöffnet hat.
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Foto: Maria Neuendorff Hilfe vor Ort: Yannick Büchle von der Berliner Stadtmissi­on bringt den Obdachlose­n am Abend Suppe und Tee unter die Brücke.

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