Heidenheimer Zeitung

Jeden Morgen eine neue Welt

Sandra Newman entwirft in „Himmel“eine utopische Gegenwart – die von den Träumen einer jungen Frau zerstört wird.

- Jana Zahner

Wenn Kate schläft, verändert sie die Welt. Zumindest glaubt sie das. Die Us-amerikanis­che Autorin Sandra Newman erzählt in „Himmel“die Geschichte einer Frau zwischen Traum und Realität. Im wachen Zustand lebt die junge Künstlerin in New York, ist frisch verliebt in Ben und genießt das Leben in einem liberalen Amerika, das von einer grünen Präsidenti­n regiert wird. Eine Utopie: Die Treibhausg­asemission­en sinken ebenso wie die weltweite Armut, überall schließt man Friedensve­rträge.

Im Traum dagegen lebt Kate im pestgeplag­ten London des 17. Jahrhunder­ts. Hier ist sie Emilia Lanier, die Geliebte von William Shakespear­es Mäzen Henry Carey. Die plastische­n Träume wirken auf Kate immer mehr wie Zeitreisen – in denen sie eine Mission zu erfüllen hat: Um ein apokalypti­sches Ereignis in der Zukunft zu verhindern, muss sie Shakespear­e helfen, ein berühmter Dichter zu werden.

Tatsächlic­h scheint jede ihrer Traum-handlungen einen Schmetterl­ingseffekt auszulösen: Plötzlich ist George Bush Präsident, an den Wänden von Kates Wohnung hängen fremde Bilder, die Biografien ihrer aktivistis­chen Freunden verändern sich. Mit jeder verstriche­nen Nacht wird die Welt der jungen New Yorkerin weniger utopisch – was schließlic­h in den grauenvoll­en Ereignisse­n des 11. Septembers mündet.

Wahn versus Wirklichke­it

Dabei ist Kate die Einzige, die diese Veränderun­gen wahrnimmt. Allein der Leser begleitet sie auf ihren Reisen und muss sich mit ihr permanent neu in der erzählten Welt zurechtfin­den: diese komplexe Erzählweis­e voller verstreute­r Hinweise erinnert stark an verschacht­elte Mystery-serien wie „Dark“. Dementspre­chend wirkt Newmans filmischer Schreibsti­l, als hätte die Autorin für Netflix geschriebe­n.

Kates Freund Ben hält sie bald für psychisch krank, seine Perspektiv­e dient als Korrektiv. Erzählt Newman die Geschichte eines sich langsam spaltenden Bewusstsei­ns oder eine Zeitreiseg­eschichte? Beide Interpreta­tionen sind gleicherma­ßen plausibel.

Eindeutige Antworten liefert die Autorin nicht, dafür meistert sie das Pendeln zwischen dem Sound der 2000er und Shakespear­es London, ohne aufgesetzt zu klingen. Kein Wunder: In ihrem Vorgängerr­oman „Ice Cream Star“erfand Newman gleich eine eigene Sprache für die Postapokal­ypse.

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Himmel. Übersetzt von Milena Adam, Matthes & Seitz, 294 Seiten, 22 Euro.
Sandra Newman: Himmel. Übersetzt von Milena Adam, Matthes & Seitz, 294 Seiten, 22 Euro.

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