Die innere Jukebox von Sir Paul
Mit „Mccartney III“präsentiert der 78-Jährige ein Album, das in der ersten Corona-welle entstanden ist. Die Vielfalt der Songs reicht von sanfter Melancholie bis zum Blues-rock.
Zu keinem Zeitpunkt, gab Paul Mccartney vor kurzem der „New York Times“zu Protokoll, habe er daran gedacht, ein Album aufzunehmen. Eher habe es sich folgendermaßen zugetragen: „Du befindest dich im Lockdown und kannst plötzlich machen, was zum Teufel du willst. Was mich wirklich überrascht, ist, dass ich von der Musik nicht die Nase voll habe. Denn, genau genommen, müsste ich mich seit Jahren langweilen.“Ein unvorstellbarer Gedanke natürlich: dass Paul Mccartney vom Musikmachen gelangweilt sein könnte oder ihm die Ideen ausgingen. Der Mann ist ein Phänomen – 78 Jahre alt und ähnlich produktiv wie sein Songwriter-kollege Bob Dylan. Wenn auch ganz anders.
Während wir Normalsterblichen also in der ersten Coronawelle den Keller ausgemistet, die Küche gestrichen oder alte Fotos sortiert haben, hat sich Paul Mccartney mit der Familie aufs Land in Sussex zurückgezogen und ist jeden Tag in sein Privatstudio gegangen. Eigentlich hätte er auf einer Tour rund um die halbe Welt sein sollen, stattdessen hat er neue Songs geschrieben, vom Schlagzeug bis zur E-gitarre jedes Instrument selbst eingespielt, und dabei ist – wie nebenbei – „Mccartney III“entstanden.
Drei sehr unterschiedliche Teile
Ganz im Alleingang also, wie das Stadtflucht-album „Mccartney I“aus dem Jahr 1970 (kurz nach dem Auseinanderbrechen der Beatles) und die experimentelle Synthiespielerei „Mccartney II“von 1980. Jetzt ist da eine Trilogie, die sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt. Drei Teile, die unterschiedlicher kaum sein könnten, aber doch unverkennbar von einem Mann stammen, dessen innere Jukebox immer wieder neue Songs ausspuckt, der Melodien in aberwitziger Zahl aus sich hervorzaubert, für die ein mittelmäßiger Künstler einen Pakt mit dem Teufel schließen würde.
Noch immer gibt es Menschen, die behaupten, nach dem Ende der Fab Four sei Paul Mccartney nicht mehr viel gelungen. Was natürlich angesichts seines Post-beatles-oeuvres von ungemeiner Borniertheit zeugt. Was man an ihm hat, lässt sich auch an „Mccartney III“hören: Hinreißende Melodien (etwa bei „Kiss Of Venus“, das sich in seiner schwelgerisch-schwebenden, melancholischen Schönheit nicht hinter anderen seiner kammermusikalischen Klassiker verstecken muss), ein von der apodiktischen Wucht Lead Bellys beeinflusster Blues („Women And Wives“), ein ziemlich leichtfüßig daherkommender Popsong („Find My Way“), ein bisschen 70erglam („Seize The Day“), eine ironische Abrechnung mit einem ehemaligen Geschäftspartner im Gewand eines Blues-rock-gassenhauers („Lavatory Lil“), ein donnernder Gitarrentrack, der gut zu Mccartneys Flirts mit dem Heavy-metal passt, die bekanntlich mit „Helter Skelter“ihren Anfang nahmen („Slidin’“).
Und der vielleicht ungewöhnlichste Song auf dem Album: „Deep Deep Feeling“. Er steht ziemlich in der Mitte von „Mccartney III“– eine Art Königsstück, schon alleine seiner Länge von knapp achteinhalb Minuten wegen. Es beginnt mit einem freistehenden, den ganzen Song beherrschenden Beat, über den sich ein suggestiver, beschwörender Gesang legt; Klavierakkorde kommen hinzu, etwas zugleich Abstraktes und Psychedelisches, verschiedenste Stimmungen scheint dieses collagierte Monstrum zu durchlaufen, um am Ende mit einer akustischen Gitarre noch einmal ins Offene, Unabsehbare weisen zu wollen. „Deep Deep Feeling“ist das experimentellste und originellste Stück auf dem neuen Album, das um einiges charmanter, direkter und unvorhersehbarer ist als das leicht überproduzierte und überambitionierte „Egypt Station“von 2018.
Brüchige Stimme
Die Stimme von Paul Mccartney ist dabei längst nicht mehr so wandlungsfähig und schmeichelnd wie sie einmal war; sie ist brüchig geworden. Weshalb er manchmal in Johnny-cash’sche Tiefen abtaucht oder sich ins Falsett flüchtet, was schöne Effekte erzeugt. Das Finale der Platte bildet allerdings ein bereits vor mehr als 25 Jahren aufgenommener Song: „Winter Bird – When Winter Comes“.
Seinerzeit saß die Produzentenlegende George Martin an den Reglern, und Mccartneys Stimme besitzt auf dieser Aufnahme noch ihre schmeichlerische Verführungskraft. „Mccartney III“ist nicht nur Momentaufnahme, sondern erzählt eine ziemlich weit zurückreichende Geschichte: Es ist, als ob das Album wie durch einen Schleier all das in Erinnerung rufen würde, was Mccartney in den letzten 60er Jahren geschaffen hat.