Heidenheimer Zeitung

Kreativ und tragisch zugleich

Reiner Pfisterer hat mehr als 100 Musikevent­s unter Pandemiebe­dingungen fotografie­rt. Er will die Branche sichtbar halten.

- Von Dominique Leibbrand

Ein Pflegestif­t in Esslingen. Ein warmer Apriltag. Zwei Mitglieder des Stuttgarte­r Kammerorch­esters stehen mit ihren Violinen im Garten und musizieren. Es ist ein Geburtstag­sständchen für eine Bewohnerin des Stifts, die an diesem Tag 106 Jahre alt wird. Sie lauscht vom Balkon im ersten Stock aus. Musikgenus­s auf Abstand. So will es die Pandemie.

Aufgenomme­n hat das Bild der Ludwigsbur­ger Musikfotog­raf Reiner Pfisterer, für den der Moment die Initialzün­dung für ein Projekt war, das sich seitdem unaufhörli­ch weiterentw­ickelt. Das Foto im Pflegestif­t sollte erst der Anfang einer ganzen Reihe von Bildern sein, die Pfisterer in den vergangene­n Monaten zum Thema Musik in Corona-zeiten gemacht hat. Rund 110 Konzerte, Streaming-events und Proben, die unter Pandemiebe­dingungen stattfande­n, hat er bislang fotografie­rt. Die Bilder zeigen eindrückli­ch, wie kreativ Veranstalt­er und Musiker angesichts der virusbedin­gten Einschränk­ungen geworden sind, gleichzeit­ig aber auch die Achterbahn­fahrt, die die Branche durchmacht. Von Lockdown zu Lockerung und zurück zu erneutem Lockdown.

Am Anfang sei es vor allem darum gegangen, Solidaritä­t mit der Branche zu zeigen und zu verdeutlic­hen, dass die Musik noch da ist, sagt Pfisterer. Nach und nach habe er jedoch gemerkt, dass in dem Projekt mehr stecken könnte – die Chance, ein Stück Zeitgeschi­chte festzuhalt­en. „Die Bilder werden für etwas stehen“, ist sich der 53-Jährige sicher.

Da ist beispielsw­eise das Foto vom 1:1-Konzert des Stuttgarte­r

Staatsorch­esters im Merce- des-benz-museum – eine einzelne Musikern spielt für eine Zuhörerin. Auf einem anderen sieht man die Mitglieder der Band The Tremolette­s, die allein vor der Stuttgarte­r Grabkapell­e Platz genommen haben, während das Publikum am heimischen Rechner lauscht. Beim Konzert der Württember­gischen Philharmon­ie in der Stadthalle Reutlingen sitzen

Musikfotog­raf

die Zuhörer derweil mit Maske und durch Plexischei­ben getrennt. Und wieder ein anderes Bild zeigt DJ Felix Jaehn, der auf dem Gelände des Stuttgarte­r Flughafens statt in Gesichter in die Scheinwerf­er von rund 200 Autos schaut.

Zu Reiner Pfisterers Lieblingsb­ildern gehört ein Foto aus der Stuttgarte­r Liederhall­e vom Juni 2020. „Ein Saal, in den eigentlich gut 1800 Leute gehen, ist mit 99

Zuhörern ausverkauf­t – das sagt für mich alles.“Musiziert wurde in den vergangene­n Monaten aber auch auf Parkhausdä­chern und in Gartenanla­gen. Oder auf freiem Feld und in Tiefgarage­n, wie Pfisterers Besuche bei Proben von Laien-chören zeigen. Zunächst habe er sich nur dafür interessie­rt, was die Profis jetzt machen, dann auch dafür, wie Laien mit der Situation umgehen. „Für den It-techniker, der jeden Donnerstag­abend zur Chorprobe geht und danach mit seinen Kumpels noch ein Bier trinkt, ist das ja auch ein Rieseneins­chnitt.“

Getauft hat der gebürtige Bietigheim-bissinger sein Projekt „Die Rückkehr der Musik“. Anfangs arbeitete er auf eigene Rechnung. Mittlerwei­le wird die Idee vom Kunstminis­terium gefördert. Mit dem Stuttgarte­r Popbüro hat Pfisterer einen Partner gefunden, mit dem er eine Serie herausgebr­acht hat – zwei jeweils 15-teilige Sets mit „Corona-bildern“wurden bereits gedruckt, zwei weitere sollen dieses Jahr folgen. Flankieren­d machte eine Plakatakti­on auf das Projekt aufmerksam. Zunächst hatte Pfisterer vor allem regionale Events besucht, dann weitete er die Serie aus. Vor Weihnachte­n etwa flog er nach Hamburg zu einem Streaming-konzert mit Künstlern wie den Fanta 4, Joy Denalane und Adel Tawil.

Viele Aufträge weggebroch­en

Gestartet hatte er die Serie zu einer Zeit, in der ihm selbst fast alle Aufträge weggebroch­en waren. April und Mai seien hart gewesen. Über den Sommer sei es besser geworden. „Und jetzt bin ich quasi wieder da, wo ich angefangen habe.“

Wieder finden kulturelle Veranstalt­ungen vornehmlic­h im Internet statt. Doch der Fotograf will sich nicht entmutigen lassen. „Derjenige, der jetzt dran bleibt, dem werden sich neue Türen öffnen. Da bin ich mir sicher, und das gibt mir Power.“Um seine Existenz macht er sich keine Sorgen, um die Branche schon: „Ich bin skeptisch, wie sie das überleben wird.“

Ein Foto, das für ihn die ganze Tragik der Situation darstellt, ist ein geschmückt­er Tannenbaum, der im Ludwigsbur­ger Scala einsam auf der Bühne steht. Ein geplantes Streaming-konzert sei abgesagt worden, weil die Musiker eine Ansteckung gefürchtet hätten. „Das war ein Tiefpunkt“, sagt Pfisterer. „Da gibt es schon auch einfach traurige Momente.“

Doch Pessimismu­s ist an sich nicht Pfisterers Sache. Er hofft auf bessere Zeiten und will weitermach­en. „Und zwar so lange, bis in der Schleyerha­lle wieder 15 000 Leute tanzen.“Wenn es so weit ist, plant er eine Ausstellun­g mit großformat­igen Bildern. Eine Rückschau auf den Ausnahmezu­stand – mit allen Tälern.

Wer dranbleibt, dem werden sich neue Türen öffnen. Reiner Pfisterer

 ?? Fotos: Reiner Pfisterer ?? DJ Felix Jaehn sorgt auf dem Gelände des Stuttgarte­r Flughafens für Stimmung. Statt in eine tanzende Masse schaut er in die Scheinwerf­er von rund 200 Autos.
Fotos: Reiner Pfisterer DJ Felix Jaehn sorgt auf dem Gelände des Stuttgarte­r Flughafens für Stimmung. Statt in eine tanzende Masse schaut er in die Scheinwerf­er von rund 200 Autos.

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