Bitte kein Notabitur
Wenn Ende dieses Jahres wieder ein Unwort des Jahres gesucht wird, dann könnte der Begriff Corona-jahrgang dabei eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Gemeint sind damit Schüler, die in Pandemiezeiten ihren Abschluss machen oder aber vor dem Übergang in eine andere Schulform stehen.
Sie müssen mit einem Unterricht klarkommen, den sich vorher niemand so richtig vorstellen konnte und der sich in Baden-württemberg hinter dem Begriff Homeschooling verbirgt, vielleicht weil sich das im Englischen einfach attraktiver anhört als das schnöde deutsche Wort Heimunterricht. Es geht um ein Distanzlernen ganz ohne Lehrer, der mal schnell befragt werden kann. Auch dank reduzierter Stundenpläne ist das kein wirklicher Ersatz für den Präsenzunterricht und funktioniert eigentlich nur in Familien, in denen ein Elternteil mit genügend Freizeit den Part des Aushilfslehrers übernehmen kann. Nicht umsonst kursiert hier die Scherzfrage, ob die nächsten Monate wieder als Referendariatszeit anerkannt werden.
Das soll einmal mehr das Dilemma verdeutlichen, in dem unsere Gesellschaft zurzeit steckt. Es gibt eine Schulpflicht. Das heißt: Kinder müssen in die Schule geschickt werden. Nach der letzten überraschenden Verlängerung der Weihnachtsferien in Baden-württemberg kommt es aber vielen so vor, als ob sie den Staat daran erinnern müssen, dass auch er seiner Schulpflicht nachkommen muss. Er muss einen wie auch immer gearteten Unterricht anbieten. Schaut man sich die Entwicklung in dieser Woche im Kreis Heidenheim an, dann lässt sich leicht erkennen, dass Bildung in der Politik zurzeit offenbar keinen allzu großen Stellenwert genießt.
Schüler des Margarete-steiffgymnasiums sollten am Montag mit der Schulplattform Moodle in den Digitalunterricht starten. Das war die Ansage des Kultusministeriums. Das Ergebnis: Zwei Stunden Funkstille, dann gab es zumindest zeitweise einen Zugang. Gerade Teenager verlieren nach so einem Start schnell die Lust am Lernen.
Laut Kultusministerium habe es diese Probleme nur in 20 Prozent der Schulen im Land gegeben. Für die betroffenen Eltern ist das nur ein schwacher Trost.
Wenn die Technik sowieso nicht funktioniert, dann verzichten wir lieber gleich auf digitale Lerninhalte, mag man sich dagegen an einigen Grundschulen in Heidenheim gedacht haben. Hier mussten die Eltern wie im Frühjahr Arbeitsblätter direkt in der Schule abholen. Das Lernprogramm für die Kinder besteht darin, diese Blätter selbstständig und bei Bedarf mit Unterstützung der Eltern und Geschwister abzuarbeiten. Familien, die mit sprachlichen Problemen zu kämpfen haben, sind dabei klar auf der Verliererseite.
Thomas Zeller
Auch wenn diese Beispiele nicht repräsentativ sind und der Wiederstart nach den verlängerten Weihnachtferien mancherorts im Kreis reibungslos verlaufen ist, kann von einem flächendeckenden geregelten Unterricht nicht die Rede sein. Entgegen all der Sonntagsreden über den Bildungsstandort Baden-württemberg und das gute Schulniveau sieht der Alltag trist aus. Zehn Monate, nachdem die Pandemie unser Zusammenleben durcheinandergewirbelt hat, kämpfen Schulbürokraten immer noch um den Anschluss an die digitale Gegenwart. Wenn sie denn überhaupt kämpfen. Mittlerweile drängt sich häufig der Eindruck auf, Schüler, Lehrkräfte und Eltern würden im Regen stehen gelassen.
Dabei ist doch klar, dass auch dieses Schuljahr wieder anders bewertet werden muss. Das
Land muss seine Leistungstests an die Möglichkeiten des Heimunterrichts anpassen. Schüler, die vor ihren Abschlüssen stehen oder dem Wechsel an eine weiterführende Schule, dürfen keine Nachteile erleiden. Niemand will ein Notabitur, aber eine klare Aussage der Bildungspolitiker in Stuttgart, wie in diesen Zeiten eine Leistungsselektion
Wie hoch ist im Augenblick überhaupt noch die Aussagekraft von Schulnoten?
durch Noten und eine minimale Anzahl an Klausuren funktionieren soll, wäre schon mal ein Anfang. Ansonsten könnten allein im Kreis Heidenheim in den nächsten Monaten wieder Hunderte Bildungsbiografien beschädigt oder sogar zerstört werden. Ganz abgesehen davon stellt sich die Frage, wie hoch im Augenblick überhaupt noch die Aussagekraft von Noten sein kann, da es ja gar keinen einheitlichen Unterricht mehr gibt, auf dem sie basieren.
Die Schulen sind im vergangenen Jahr durch die Pandemie ins kalte Wasser der Digitalisierung geworfen worden. Dabei hat sich gezeigt, dass einige durch ihre Ausstattung besser schwimmen können als die anderen. Das ist nicht überraschend, denn wir sind mitten in einem fundamentalen Wandel in diesem Bereich. Bei der jetzt nötigen „Jahrhundert-umstellung“der Bildungskonzepte braucht es aber auch Jahrhundert-entscheidungen der Politik. Angesichts der bevorstehenden Landtagswahl ist das eine Chance und ein Risiko zugleich.
Thomas.zeller@hz.de