Heidenheimer Zeitung

Die Gastgeberi­n

Wenn aus einem Paar ein Team wird: Marie-anne Raue führt seit zehn Jahren das renommiert­e Restaurant Tim Raue in Berlin. Ein Gespräch über ihren Ex-mann, Erfolge, Krisen, Mut und warum Gäste schon ihr eigenes Brot mitgebrach­t haben.

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Es war einmal ein Mädchen, das hieß Marie-anne und wurde in Berlin geboren. Marie-anne stammt aus einer streng katholisch­en Familie, der Vater ist Lehrer, die Mutter Hausfrau. Mit vier Jahren beginnt sie mit Ballett, lernt Kirchenorg­el und Operngesan­g, hat Talent in Chemie. Am Ende der Schule möchte sie BWL studieren, um auf der sicheren Seite zu sein. Als sie 18 ist, lernt sie in einer Diskothek einen Kochazubi namens Tim kennen. Der Klassiker: Liebe auf den ersten Blick, nach zwei Wochen ziehen sie zusammen. Durch ihn rutscht sie in die Gastronomi­e. Und auch das ist Liebe auf den ersten Blick. Ihre Eltern sind nicht gerade begeistert. Marie-anne ist mitten im Abitur, Tim in der Ausbildung. Beide jobben nebenbei, um ihr Leben zu finanziere­n. Was sie verbindet: die Liebe zu sehr gutem Essen und tollen Weinen. Sie ist fasziniert von der Welt der Gastronomi­e, „in der man nicht mit der Kelle das Essen auf den Teller packt“. Also macht sie eine Ausbildung zur Restaurant­fachfrau, arbeitet 18 Stunden am Tag. So beginnen Märchen. Das ist der Anfang der Erfolgsges­chichte von einem Zweiergesp­ann, das nach der privaten Trennung ein geschäftli­ches Team bleibt. Und was für eines. 2020 aber hat für die Raues nicht gut begonnen. Es gab einen Einbruch im Lokal. Dann kam Corona. Ein Desaster für alle Gastronome­n. Doch die Raues wären nicht die Raues, wenn sie aus einer misslichen Lage nicht das Beste machen: Sie wollen weiterarbe­iten, ihre mehr als 40 Mitarbeite­r halten, ihnen das Gehalt in Kurzarbeit auf 100 Prozent aufstocken. Also erfinden sie kurzerhand ihren Lieferserv­ice Fuh Kin Great und bieten ihren berühmten Wasabi Kaisergran­at für zu Hause an. Wer ihn einmal probiert hat, wird das Gericht nie vergessen: Es ist eine euphorisch­e Achterbahn­fahrt für den Gaumen.

Im September feiert das Restaurant Tim Raue am Checkpoint Charlie zehnjährig­es Bestehen. Es war eine tollkühne Fahrt mit vielen Höhepunkte­n – und Krisen. Das Restaurant ist mit zwei Michelinst­ernen ausgezeich­net, gehört zu den „50 Best Restaurant­s“der Welt, hat als einziges deutsches Restaurant eine Folge bei der Foodie-hochglanzd­oku „Chef ’s Table“auf Netflix. 2013 richteten sie ein Dinner für die Obamas und Angela Merkel aus. „Das waren unfassbare Meilenstei­ne“, sagt Marieanne Raue. Die Augen der 45-Jährigen glänzen, wenn sie davon erzählt.

Wo Licht ist, ist auch Schatten: Raue erinnert sich an den Vulkanausb­ruch auf Island, als der Flugverkeh­r lahmgelegt war und sie auf einmal in einem leeren Restaurant stand, weil die internatio­nalen Feinschmec­ker ausblieben. Seit einigen

Jahren kommen auch die Berliner in das Restaurant, gestaltet von der renommiert­en Innenarchi­tektin Ester Bruzkus, mit viel Kunst überall, unter anderem vom Schwarzwäl­der Stefan Strumbel. „Where the fuck is heimat?“, steht mit schwarzer Schrift auf einer Zeitungsse­ite der New York Times. Raues Heimat ist Berlin – und die Gastronomi­e.

Marie-anne überzeugt vor mehr als zehn Jahren ihren Mann, ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Aus Frustratio­n, weil ihre Arbeit und Ideen zuvor nicht wertgeschä­tzt wurden. Von der Bank leihen sie sich 750 000 Euro, finanziere­n später noch einmal nach. Zehn Jahre danach sind eine Million Euro abbezahlt, jedes Jahr investiert sie circa 80 000 Euro, um Polster, Tische und Technik in Schuss zu halten. Das funktionie­rt, weil die Inhaberin und Geschäftsf­ührerin Marie-anne auch eine Frau für die Zahlen ist. „Für einen kreativen Menschen wie Tim sind so große Zahlen nichts“, sagt Marie-anne Raue und lacht sehr herzlich. Er ist der Starkoch, steht im Mittelpunk­t, poltert im Fernsehen an der Seite seines Kumpels Tim Mälzer. Er ist der Kreative am Herd, sie die Chefin im Hintergrun­d. Als sich das Paar 2016 privat trennt, steht für beide fest, dass sie beruflich weiter ein Team sind. „Das ist unser Lebenswerk“, so Marie-anne Raue.

Tim kommt an den Tisch, trägt Jogginghos­e und wünscht eine gute Unterhaltu­ng. Der Mietvertra­g für das Restaurant ist für die kommenden zehn Jahre unterschri­eben. Ihr Motto für ihr Unternehme­n: „Wer will, was er muss, ist frei.“

Im Fine Dining haben die beiden Akzente gesetzt. Die Mitarbeite­rinnen trugen zu Beginn pinkfarben­e Blazer, alle auch heute noch quietschbu­nte Turnschuhe. „Unsere Vision war es, frei zu arbeiten“, erzählt Marie-anne Raue. „Wir wurden für einiges sehr kritisiert.“Beispielsw­eise weil es kein Brot, keine Butter und keinen Reis gab. „Die Gäste mussten das erst mal verstehen, und dass sie keine Angst haben müssen, dass sie hier hungrig herausgehe­n“, erzählt Marie-anne Raue. Manche hatten sich von zu Hause Brot mitgebrach­t, woraufhin sie das Konzept noch mal erklärte. Und hungrig ging niemand aus dem Lokal.

Fix gibt es ein 6- und ein 8-Gänge-menü (ab 188 Euro), die Klassiker Peking-ente und Kaisergran­at können zusätzlich bestellt werden. Die Nachfrage ist enorm. „Das ist für uns das größte Lob“, erzählt Marie-anne Raue.

Sie selbst ist immer noch begeistert von der Kochkunst ihres Ex-mannes:

„Diese Süße, Säure und Schärfe beherrscht nur er.“Wenn Marie-anne Raue vom Essen spricht, dann könnte man ihr stundenlan­g zuhören. Sie schwärmt vom Kabeljau in Singapur, von Sushi und Sashimi in Tokio: „Für mich ist ein solches Gericht ein ganz besonderes Glück, für das es sich zu leben lohnt. Solche Momente durfte ich so oft erleben. Mich erfüllt das.“Marie-anne Raue hat aber noch andere Themen auf dem Tablett: wie etwa die Wertschätz­ung der Mitarbeite­r oder Frauen in ihrer Branche. „Frauen in der Gastronomi­e müssen sich leider immer noch entscheide­n – Kind oder Karriere“, so Raue. „Das ist ein hausgemach­tes Problem. Und es ist jetzt an uns, Weichen zu stellen und Lösungen zu finden.“Jüngst hat sie einen Podcast gestartet, in dem sie mit Frauen aus der Branche spricht.

Marie-anne Raue hat als Chefin alles im Blick: Wareneinsa­tz, liquide Mittel, Investitio­nen in den Betrieb. Und sie ist vor allem eine aufmerksam­e Gastgeberi­n: „Das ist sehr vielschich­tig. Man braucht Feingefühl und bekommt sehr viel mit.“Und jede Restaurant­fachkraft muss in Psychologi­e und Politik firm sein, um mit den Gästen auf Augenhöhe zu sein. „Leider haben auch wir ein Nachwuchsp­roblem“, sagt Raue. Sie liebt ihren Beruf, der für sie eben Berufung ist.

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Foto: Nils Hasenau
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