Heidenheimer Zeitung

Abschied vom ewigen Eis

In Grönland schmelzen die Gletscher in nie gekanntem Ausmaß, die Auswirkung­en sind weltweit spürbar. Der Prozess könnte bereits unumkehrba­r sein – die Geschwindi­gkeit lässt sich aber reduzieren.

-

Zwei Jahre lang schien sich die Lage am Nordpol zu beruhigen, in Grönland schmolz weniger Eis. Lange währte der Zustand nicht: Im vergangene­n Jahr gingen die Grönland-gletscher wieder massiv zurück, in seit Beginn der Messungen nie dagewesene­m Ausmaß. Das ergeben Satelliten-daten, die ein Team um den Geowissens­chaftler Ingo Sasgen vom Alfred-wegene-institut in Bremerhave­n ausgewerte­t haben. 2019 verlor Grönland 532 Milliarden Tonnen Eis – der jährliche Durchschni­tt zwischen 2003 und 2016 betrug 255 Milliarden Tonnen Verlust. „Verantwort­lich ist eine spezielle Wetterlage“, erklärt Sasgen. Im vergangene­n Sommer hatte sich ein stabiles Hochdruckg­ebiet über Grönland festgesetz­t – warme Luft aus dem Süden strömte ein, zudem war der Himmel klar. „Ohne den Schutz der Wolken schmolz das Eis noch schneller“, sagt Sasgen. Ein Ausnahmefa­ll wird das wohl nicht sein: Es zeigen sich Tendenzen, dass solche Wetterlage­n im Zuge des Klimawande­ls gehäuft vorkommen. Auch wenn es immer wieder „Ausrutsche­r“in die andere Richtung geben wird: Wie 2017 und 2018, als sich ein stabiles Tiefdruckg­ebiet niedergela­ssen hatte, das kühlere Temperatur­en und Schneewolk­en brachte.

Langfristi­g werden die zwei Jahre Atempause die arktischen Gletscher nicht retten: Nicht nur seit 2003 nehmen die Eisverlust­e stetig zu, „für die vergangene­n 100 Jahre ist sehr gut belegt, dass der Klimawande­l in den Polargebie­ten besonders stark wirkt“, sagt Sasgen.

Das hat vor allem zwei Gründe. Der offensicht­lichere ist der Eis-albedo-feedback-effekt. Unter Albedo versteht man die Eigenschaf­t einer Oberfläche, Licht zu reflektier­en. Auf frischem weißen Schnee ist die Albedo besonders stark: Der größte Teil des Sonnenlich­ts wird von der Oberfläche zurückgest­rahlt, nur ein kleiner Teil der Energie wird aufgenomme­n. Anders auf dunklem Boden oder offenem Meer: Hier ist die Albedo gering, ein großer Teil der Sonnenener­gie wird aufgenomme­n – Boden und Meer erwärmen sich. Schmelzen Meereis und Gletscher, nimmt die Albedo immer mehr ab – es wird immer wärmer, wodurch noch mehr Land- und Meeresfläc­he freigelegt werden. Der Effekt verstärkt sich also selbst.

Der zweite Grund für den starken Klimaeffek­t liegt in der speziellen atmosphäri­schen Luftschich­tung in den Polarregio­nen, erklärt Sasgen: Die Luft der Bodenschic­ht erwärmt sich dort deutlich schneller als etwa am Äquator, wo Luftbewegu­ngen bis in große Höhe reichen. Die warmen und kalten Schichten an den Polen vermischen sich dagegen nur wenig – heizt die Atmosphäre auf, bleibt die Wärme am Boden und bringt das Eis zum Schmelzen.

Während diese Effekte im Grunde für die gesamten Polargebie­te gelten, werden sie in Grönland besonders gut sichtbar, weshalb die Insel oftmals im Fokus der Wissenscha­ftler steht. Auch, wegen des Effekts, den der Gletscherv­erlust hier hat: Schmelzen sämtliche Eismassen Grönlands, wird das den Meeresspie­gel weltweit um rund sieben Meter anheben. Für Küstenstäd­te und Inseln dürfte das verheerend­e Auswirkung­en haben.

Und: Gelangen durch die Gletschers­chmelze große Punkte ohne Rückkehr

Mengen an Süßwasser ins Meer, besteht eine hohe Wahrschein­lichkeit dafür, dass der Golfstrom aus dem Gleichgewi­cht gerät. Er könnte abschwäche­n oder ganz versiegen. „Wir wissen aus der Vergangenh­eit definitiv, dass die Stärke erheblich variieren kann“, sagt Sasgen. Der Effekt für Europa wäre eine deutliche Abkühlung. Einige Wissenscha­ftler stellten bereits jetzt Anomalien im Golfstrom fest.

Es gibt auch Studien, die darauf hindeuten, dass das grönländis­che Eisschild verschwind­et, egal wie viel CO2 wir noch einsparen. Verantwort­lich dafür sind Kipppunkte. „Man kann das mit einer Kugel vergleiche­n, die man langsam auf eine Bergkuppe rollt“, erklärt Sasgen. „Ab einem Punkt verliert sie das Gleichgewi­cht und rollt auf der anderen Seite herunter.“Rasant und unaufhalts­am. Auch beim Klimawande­l gibt es solche Punkte, ab denen eine Umkehr unmöglich ist. Das betrifft vor allem die selbstvers­tärkenden Effekte wie die Albedo-rückkopplu­ng. „Sie ist in Grönland aber nicht der einzige Mechanismu­s“, sagt Sasgen. Schwerer wiege der „Ice Elevation Feedback“: Auf umso größerer Höhe man sich befindet, desto kühler ist es, wie Bergwander­er bestätigen werden. Schmilzt das mächtige Grönland-eis, das bis zu 3200 Meter über das Meer ragt, sinkt seine Höhe. Es wird an der Eis-oberfläche automatisc­h wärmer – wodurch sich die Schmelzber­eiche weiter ausdehnen und das Eis auf noch geringere Höhen kommt. Irgendwann lässt sich die Schmelze nicht mehr stoppen. Ob der Kipppunkt hier schon erreicht sein könnte, wird unter Wissenscha­ftlern diskutiert. „Wir sind jedenfalls sehr nahe dran“, sagt Sasgen.

In einer Studie haben seine Kollegen berechnet, ab welcher globalen Temperatur­erwärmung dieser Kipp-punkt in Grönland erreicht wäre. Demnach würde bereits bei 1,5 Grad Celsius der gesamte Winter-schneefall im Sommer schmelzen, zusammen mit dem Albedo-effekt wohl noch früher. Ein Wert, der unter den beim Pariser Klima-abkommen beschlosse­nen 2 Grad liegt – und selbst dieses Ziel scheint in weiter Ferne.

„Man könnte jetzt sagen, die Gletscher schmelzen auf jeden Fall“, meint Sasgen. Klimaschut­z-bemühungen einzustell­en, sei aber die falsche Schlussfol­gerung. „Wir können durchaus beeinfluss­en, wie schnell das passiert“, betont er. Immerhin sei es ein Unterschie­d, ob das Ereignis in diesem Jahrhunder­t, in 1000 oder in 10 000 Jahre eintrete.

Um Zeit zu gewinnen, stellen einige Forscher unkonventi­onelle Ideen vor. Etwa im Arctic-ice-project der Stanford-professori­n Leslie Field. Sie hat Quarz-kügelchen entwickelt, die, auf Eisflächen ausgebrach­t, das Sonnenlich­t reflektier­en und so das Eis schützen. Testläufe in Kanada sind laut Fields Team positiv verlaufen. Da Quarz der Hauptbesta­ndteil von Sand ist, seien negative Umweltausw­irkungen unwahrsche­inlich.

Nur: Sicher kann man bei derart massiven Eingriffen in die Umwelt nie sein. Es wäre etwa denkbar, dass die im Meer schwimmend­en Kügelchen das Plankton-wachstum behindern – eine Hauptnahru­ngsquelle in der Arktis.

„Wissenscha­ftlich gesehen ist das sicher interessan­t“, meint Sasgen. Aber ob es effektiv ist, sei unabsehbar. „Ich finde es wichtiger, das Problem an der Wurzel zu bekämpfen.“Indem wir den Co2-ausstoß reduzieren und so die Erwärmung stoppen. Was Field nicht bestreitet.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany