Skizzen aus der Dunkelheit
Das Stuttgarter Schauspiel gibt vorab Einblicke in neue Stücke – Premierendatum ungewiss.
Stuttgart. Umarmungen, Küsse? Sind im Theater derzeit tabu. Wie lässt sich Nähe trotzdem darstellen? Auch darum geht es in den beiden Stücken von Roland Schimmelpfennig und Nancy Harris, für die das Schauspiel derzeit probt – mit unbekanntem Premierendatum. Bis Ende April ist der Spielbetrieb ausgesetzt, doch die Teams gaben schon jetzt bei einer digitalen Matinee Einblicke in Texte und Regieideen.
Zunächst „Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit“: Diese Szenenfolge des vielgespielten Theaterautors Roland Schimmelpfennig versteht sich als eine Art Überschreibung von Arthur Schnitzlers einstigem Skandalstück „Reigen“(1897/1920). Sex, das zentrale Thema, wurde bei Schnitzler noch durch vielsagende Gedankenstriche angedeutet. Wie Regisseurin Tina Lanik erläutert, versucht Schimmelpfennig, die originalen „Reigen“-figuren – Dirne, Soldat, Stubenmädchen, Dichter, Graf – „ins Heute zu katapultieren“. Aus der Prostituierten wird eine Transfrau, aus dem Grafen ein Filmproduzent, der Züge von Harvey Weinstein trägt und obendrein noch von einer Frau gespielt wird – nämlich von Ensemble-neuzugang Evgenia Dodina, die zuletzt im September 2020 live und abgründig bei Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“überzeugen konnte. Mit Blick auf die Me-too-debatte geht es bei Schimmelpfennig verschärft um Machtverhältnisse und Rollenkonflikte. Das Thema Sex, sagt die Regisseurin, werde in diesem Kontext eher „entzaubert“, bedeute „nicht wirkliche Nähe“. Was wiederum zur gebotenen Bühnendistanz passt.
Sophia Bodamer führt Regie
Auch bei „Leuchtfeuer“, einer verwickelten Familiengeschichte aus der Feder der irischen Autorin Nancy Harris, ist es unklar, wann das Ensemble damit loslegen kann. Da die vorgesehene Regisseurin Rebecca Frecknall aus London nicht anreisen konnte, inszeniert nun die Schweizerin Sophia Bodamer, in Stuttgart noch bestens bekannt durch ihre Regie im Stück „Wahrheiten“. Ähnlich dialogisch gebaut ist Harris‘ „Leuchtfeuer“, wo ein Treffen von Verwandten nach und nach durch das Aufreißen alter Wunden aus dem Ruder gerät.
Im Zeichen der Abstandsregeln bedeutet das: „Man muss sich viel mehr engagieren, um beim anderen anzukommen“, sagt Elias Krischke, ebenfalls neu im Stuttgarter Schauspiel-ensemble. Dennoch: Das Live-erlebnis bleibt unersetzbar. Aber falls es zum Streaming kommt, liefern findige Gastronomen den Zuschauenden bei Bedarf gerne „Genussboxen“nach Hause – Kulinarik mit eingebautem Foyer-feeling zum Verzehr vor dem Bildschirm.