Unfassbar fassbar
„Dvořák pur“lautete das Motto beim Meisterkonzert mit der Star-cellistin Camille Thomas und der Cappella Aquileia unter Leitung von Marcus Bosch im Heidenheimer Konzerthaus, das auch als Live-stream im Internet zu erleben war.
Man muss kein Maskenhehler sein, um der neuen Art zu leben, etwas abgewinnen zu können. Es gibt auch andere Wege, um unter anderen Umständen erfolgreich zu sein. Zum Beispiel: Gerade mal ein knappes halbes Jahr dauert dieser zweite Lockdown nun an, da ist aus Heidenheim bereits eine der musikalischen Hauptstädte dieses Landes geworden. Zwei Orchesterkonzerte innerhalb von nicht einmal sechs Monaten. Das sind zwei mehr als die meisten anderen Städten Deutschlands zu bieten haben. Größere, sonst nicht vergleichbare Metropolen eingeschlossen.
Auch der Konzertkritiker lebt da regelrecht wie die Made im Speck. Und für ihn eröffnen sich ebenso ganz neue Perspektiven. Allein, nur mit Maske, sitzt er im Konzerthaus und erlebt Musik neuerdings – bereits zweimal in nicht einmal sechs Monaten, wie gesagt – aus der Vogelperspektive von der Galerie herab. Ansonsten sind da nur Musiker, umschwirrt von Kameraleuten, Kabelträgern, Tontechnikern und wer oder was sonst noch dazugehört, um ein Live-konzert zum Live-stream zu machen.
Ohne Heimweg ins Bett
Denn der Konzertbesucher sitzt inzwischen nicht mehr im Konzert, sondern zu Hause, wohin er sein Heidenheimer Konzerthaus auf jeden gewünschten Bildschirm geliefert bekommt und, wir waren bei den Vorteilen neuerer Zeiten, das Gefühl genießt, nach dem Konzert nicht erst umständlich den ganzen Heimweg hinter sich bringen zu müssen. Ganz zu schweigen davon, dass man, wenn auf den Lockdown noch eine Ausgangssperre draufgesetzt wird, sofort ins Bett kann und sich nicht, wie der Konzertkritiker, dem Nervenkitzel ausgesetzt sieht, über nächtlich leere Straßen zu chauffieren und herauszufinden, ob die Polizei dafür eine Ausnahmegenehmigung sehen möchte und ob sie einer solchen überhaupt Glauben schenken würde.
Man bemerkt: Die Musikwelt hat sich unübersehbar und unüberhörbar verändert. Dort, wohlgemerkt, wo es sie überhaupt noch gibt. Womit wir wieder in Heidenheim angelangt wären. Denn während ihre eigentlich für die nächsten Tage in Hongkong und in Dublin geplanten Konzerte längst abgesagt sind, muss Camille Thomas auf Heidenheim nicht verzichten. Und erst recht nicht Heidenheim auf sie. Ein Sponsor und tagelange
Tests machen es möglich, dass die Cappella Aquileia ab und zu dem Virus ein paar Momente ungetrübten Orchesterglücks abluchsen kann.
Enormer Wellengang
So wie am Sonntag. Diesmal im Angebot: „Dvorák pur“. Unter anderem mit dem „Wassermann“, einer mächtigen sinfonischen Dichtung auf ein gruseliges Volksmärchen, das Marcus Bosch und sein Orchester in imposanter Größe aus einem ständig in Bewegung gehaltenen Gewässer steigen lassen, das in allen nur erdenklichen musikalischen Farben schillert. Der dynamische Wellengang ist enorm. Und wenn die Wände des Konzerthauses mal wackeln, dann ist zu spüren, wie viel musikantischer Elan, wie viel Freude, mal wieder nach Noten auf den Putz zu hauen, sich aufgestaut haben und nun Bahn brechen.
Ein weiterer Dvorák des Abends: die achte Symphonie, die eigentlich auch noch als sinfonische Dichtung durchgehen könnte, leider viel zu selten zu hören und ebenfalls mit einigen höchst bemerkenswerten musikalischen Einfällen gesegnet ist. Und wenn man schon weltweit zu hören ist als gestreamtes Orchester, dann beweist bei dieser Gelegenheit die Cappella mit einer formidablen Vorstellung mal so ganz nebenbei ihr internationales Niveau. Und Marcus Bosch führt vor Ohren, dass er Dvorák wie einer dirigiert, der Dvorák tatsächlich liebt. Im Konzerthaus strömt dessen Musik, bei allem, was sie sonst noch kann, nicht nur betörend. Im Konzerthaus strömt und blüht sie. Üppigst.
Selbstverständlich ist es etwas ungerecht, zwei Drittel des Programms einfach nur so am Rande zu streifen und sich dann auf den Rest zu kaprizieren. Doch wenn es sich beim Rest um Dvoráks Cellokonzert handelt . . .
Publikum und Wissenschaft
Für manche ist Antonín Dvoráks Cellokonzert schlicht das Cellokonzert schlechthin. Selbst wenn die Musikwissenschaft sich in ihrer Begeisterung nie so geschlossen einig war wie das Publikum weltweit. Aber so etwas soll ja vorkommen. Auf der anderen Seite hätte Johannes Brahms jedenfalls das Konzert in h gern selber komponiert. Hat er tatsächlich so gesagt. Und ein Lob aus Kollegenmund
ist dann ja wohl die höchste Form der Anerkennung. Da braucht’s wahrscheinlich auch keine Wissenschaft mehr.
Womit bereits eine Menge über diese Komposition gesagt wäre, deren Instrumentation, deren Farbenreichtum, deren strömende Lyrik, deren rhythmische Zündungen, um mal nebenbei ein wenig ins Schwärmen zu geraten, selbst beim hundertsten Hören mit frappierender Selbstverständlichkeit funktionieren.
Energie aus dem Umfeld
Und es funktioniert auf erstaunlich vielfältige Weise. Man kann’s zum Beispiel pathetisch bis zum Geht-nicht-mehr auswalzen, aber auch als Zirkusstück aufführen. Nichts von dem tut Camille Thomas. Sie stürzt sich auch nicht wie die Löwin auf ihre Beute. Aber wer sie während der 86 Takte der enormen Orchestereinleitung des ersten Satzes vor ihrem Einsetzen beobachtet, kann bemerken, wie sie sich davon geradezu aufladen lässt.
Da sitzt also jemand, der nicht nur am eigenen Teil des Ganzen interessiert ist, sondern seine Energie auch aus dem Umfeld bezieht. Und davon wiederum haben die Cappella und Bosch jede Menge zu geben. So klingt Dvorák, wenn, man wiederholt sich hier gern, internationales Niveau ins Spiel kommt.
Und wie klingt Camille Thomas? Wie klingt ihr StradivariCello von 1730? Ungeheuer intensiv, sehr kernig oft in den ersten drei Lagen, sehr warm in der Mitte – und sagenhaft brillant, wenn es in die Höhe geht und längst der Daumen mit auf dem Griffbrett liegt. Liebe, Freude, Leid, Tod, Melancholie, Neugier, Heimweh, all das und noch mehr klingt in diesem Konzert mit. Und Camille Thomas holt alles heraus, macht es hörbar und zu einer großen Vorstellung: fesselnd, lebenswarm, durchpulst, mitreißend, fast durchweg atemberaubend.
Extreme Fliehkräfte
Auch in der Frage der interpretatorischen Durchdringung des dazuhin selbstverständlich mit spieltechnisch schwindelerregenden Höchstschwierigkeiten gespickten Materials bietet Camille Thomas eine Menge und vor allen Dingen eine enorme Bandbreite an. Die Cellistin kann extrem verinnerlicht klingen, beinahe ehrfürchtig wie nach Luft schnappend, wenn man so will. Sie ist aber an den besonderen Kulminationspunkten auch zum ungekünstelten, ungesteuerten, aus dem schieren Moment geborenen emotionalen Ausbruch in der Lage. Hier wirken dann geradezu körperlich auch für den Hörer spürbar solch extreme musikalische Fliehkräfte, dass man sich regelrecht darüber wundert, dass der Bogen nicht wie ein Pfeil ihre rechte Hand verlässt. Eine in gewisser Weise unfassbar fassbare Darbietung, die alle Sinne anspricht und in jeder Beziehung sinnlich ist. Sehr, sehr, sehr beeindruckend.